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«Erziehung zur Freiheit» – eine kritische Würdigung

Markus von Schwanenflügel

Ohne Zögern empfahl ich ihm die «Erziehung zur Freiheit» [1], nicht ohne gleich anzumerken, er wisse inzwischen sicher, dass es mit dem «Erziehen zu etwas» so seine Schwierigkeiten geben könne. Sofort entspann sich ein intensives Gespräch …

Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, wurde ich doch etwas unsicher, denn das Buch war ja schon während meines Studiums auf den Markt gekommen. Mit ein paar Mausklicks stellte ich fest, dass zurzeit die 12. Auflage im Buchhandel ist, aktualisiert, wie ich beruhigt feststellte. Die erste Auflage war 1972 im Verlag Freies Geistesleben erschienen. 50 Jahre! Ein runder Geburtstag! Das verdient eine Würdigung, dachte ich und besorgte mir über Freunde eine Ausgabe erster Hand – meine eigene mit den Notizen zu dem Referat, das ich als Student in einem Seminar zur Waldorfpädagogik hielt, habe ich wohl verliehen.

Und nun liegt die «Erziehung zur Freiheit» in Leinen gebunden, im Format fast DIN-A3 neben mir. Sie ist in enger Zusammenarbeit zweier schwedischer Anthroposophen entstanden: Frans Carlgren (Lehrer und Dozent) zeichnet für den Text verantwortlich, Arne Klingborg (Künstler und Dozent) für die Bildredaktion und das Layout. Sie bedanken sich in der Einleitung für die Unterstützung vieler Kolleginnen und Kollegen, ohne deren Hilfe sie die immense Arbeit nicht hätten leisten können. Rudolf Grosse nennt das Werk in seinem Vorwort eine «Dokumentation der internationalen Waldorfschulbewegung», Ernst Weißert ein «Handbuch für die Waldorf-Eltern» und einen «lebendigen Ausdruck für die weiterwirkende Erziehungskunst Rudolf Steiners».

Immer wieder habe ich in dem Buch geblättert und immer wieder habe ich mich festgelesen: Formenzeichnen, Tierkunde, Geschichte, Mathematik, Schauspiel … stets wird das, was konkret getan und gelernt wird, exemplarisch und anschaulich beschrieben und zudem prägnant dargestellt, worin seine Relevanz für die Orientierung in der Welt und für die jeweiligen altersgemäßen Entwicklungsschritte der Kinder und Jugendlichen besteht. Wie ein roter Faden ziehen sich Bemerkungen zur Bedeutung des künstlerischen Tuns durch den Text. Diese wird unterstrichen durch die Fülle der farbigen Bilder und Zeichnungen aus allen Unterrichten, die in ihrer sorgfältigen Auswahl den Text nicht nur illustrieren, sondern auch vertiefen: Der Wandel in der oft sehr phantasievollen Ausgestaltung der Motive gibt bereits eine Impression von der Verwandlung der Beziehung der Kinder und Jugendlichen zu den «Dingen» im Laufe ihrer Schulzeit. Sehr berührt hat mich das Kapitel über die Temperamente, denn hier wird besonders deutlich, was mit Erziehungskunst gemeint sein kann.

25 DM hat der Prachtband 1972 gekostet. Das war damals kein Pappenstiel. Aber der Bund der Freien Waldorfschulen ist, angeführt von seinem Nestor Ernst Weißert, gemeinsam mit dem Verlag ins Risiko gegangen.[2] Die LehrerInnen und vor allem die Eltern der Waldorfschulen waren eine Stammkundschaft, noch wichtiger aber war: der Titel traf den Nerv der Zeit. Wir erinnern uns:

  • 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht zur Lage der Menschheit «Grenzen des Wachstums» – so lange wissen wir also (mindestens) schon Bescheid!
  • Es war das Jahr der «Mai-Offensive» der Roten Armee Fraktion. 6 Bombenanschläge erschütterten die Republik. Nach verstärkter Fahndung wurden im Juli die «führenden Köpfe der ersten Generation der RAF» festgenommen.
  • Kurz danach überstand Willy Brandt das Misstrauensvotum und wurde nach Neuwahlen ein zweites Mal Bundeskanzler; seine Politik des Wandels durch Annäherung führte Jahre später zum «Mauerfall».
  • Und Joseph Beuys eröffnete auf der Documenta 5 in Kassel unter dem Motto «Soziale Plastik» sein «Büro der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung». Hier diskutierte er 100 Tage mit den Besuchern über die notwendige Veränderung der Gesellschaft. Der Omnibus für direkte Demokratie fährt und fährt und fährt und in allen Bundesländern können die BürgerInnen heute per Volksabstimmung Einfluss nehmen.

Die Generation der 68er begann damals Tritt zu fassen. Rudi Dutschke hatte den langen Marsch durch die Institutionen ausgerufen und das hieß, dass viele Studenten die Pädagogik als Hebel ansahen, um als Lehrer und Erzieher die Gesellschaft zu verändern. In der Szene der Kinderläden wurde diskutiert, ob es um eine Revolution der Erziehung oder doch eher um eine Erziehung zur Revolution gehe [3] und die von A.S. Neill, dem Gründer von «Summerhill» [4], angestoßene grundlegende Diskussion über Theorie und Praxis antiautoritärer Erziehung führte zu einer radikalen Verunsicherung der Eltern, die bis heute fortwirkt. [5] Noch grundsätzlicher stellte allerdings der Kulturkritiker und Theologe Ivan Illich die Schule als Institution in Frage und forderte eine «Entschulung der Gesellschaft» [6].

Veränderung war nötig und sie schien uns Studenten auch möglich zu sein.

An diese Aufbruchstimmung knüpft Frans Carlgren an, indem er zu Beginn über den Gründungsimpuls der Waldorfschule spricht: Nach einer sehr kompakten Skizze der Biographie Rudolf Steiners geht er auf die zentralen Ideen der Dreigliederung des sozialen Organismus ein. Eindrücklich schildert er, wie durch die schicksalhafte Begegnung von Emil Molt mit Rudolf Steiner und als Antwort auf die Fragen der Arbeiter der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in den Nachwehen des Weltkrieges die Gründung der ersten Waldorfschule «als Frucht der Dreigliederungsbewegung» möglich wurde: «eine zwölfjährige Einheitsschule, die … für jeden offen steht, unabhängig davon, welcher sozialen Schicht er angehört.»

Und am Ende schlägt der Autor den Bogen zu der (vor 50 Jahren) aktuellen Situation: Er sieht einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass der Lehrer zunehmend als der wertvollste, aber rare «Produktionsfaktor» in einer «industrialisierten Schule» angesehen werde, der durch «selbstunterrichtende» Hilfsmittel ersetzt werden solle, und dem Phänomen, dass «der weltweite Aufruhr … beinahe überall als ein Protest gegen die institutionalisierte Art des Unterrichts an den Universitäten» begann und fragt schließlich: «Zeigt sich nicht, dass das von den Forderungen des Staates und der Industrie befreite Schulwesen eine Notwendigkeit ist, wenn man eine kontinuierliche Studentenrevolte vermeiden will, die allmählich einen dauernden Schüleraufruhr an unseren Schulen im Gefolge haben würde?»

Genau das zeichnete sich damals ab: Jedenfalls in Hamburg sprang der Funke über und immer mehr Schülerinnen und Schüler vor allem der Gymnasien beteiligten sich an den Aktionen in der Innenstadt.

Auf diese Jahrgänge richtete sich die ganze Hoffnung der Waldorfschulbewegung, denn es gab viel zu wenig ausgebildete Waldorflehrer. Und die Studenten kamen, denn die Strategie ging auf: Durch intensive Werbung erreichten die Sommertagungen eine breitere Öffentlichkeit, die «aus Lehrermangel» gegründeten Waldorf-Modellschulen in Herne, Bochum und Kassel wurden zu weithin sichtbaren Leuchttürmen und mit großem Einsatz entstand in kürzester Zeit ein breites Spektrum neuer Waldorfbildungsstätten: berufsbegleitende Abendkurse an vielen Orten, die grundständige Klassenlehrerausbildung in Witten, die Freie Hochschule für anthroposophische Pädagogik Mannheim, einjährige Vollzeitkurse – und last but not least – die Seminarkurse für Studierende, an denen auch der Autor dieser Zeilen teilnahm. Wir begegneten Dozenten, die manchen Professor fachlich und methodisch-didaktisch in die Tasche steckten, und durften erleben, dass es auch ganz grundlegende Kontroversen gab. Wir wurden «begeistert» und ermutigt, die Ärmel hochzukrempeln und an der Weiterentwicklung der «Erziehung zur Freiheit» mitzuwirken. [7]

Und damit sind wir wieder beim Thema dieses Aufsatzes angekommen und fragen uns vielleicht: Was steht denn nun in der 1996 von Georg Kniebe aktualisierten Neuausgabe? Die habe ich mir tatsächlich gekauft und war dann doch etwas überrascht: Das Design ist geblieben, das Format ist halbiert, die Seitenzahl erhöht. Der Inhalt jedoch hat sich nur marginal verändert. Der Bezug auf die Studentenunruhen und einige der eindrucksvollen, gerade der großformatigen Abbildungen sind der Umformatierung zum Opfer gefallen. Eingefügt wurden drei kurze Abschnitte zu den Themen: «Technologische Aspekte», «Fremdsprachen» und «Weitere künstlerisch-handwerkliche Bereiche», die in dieser Form aber bereits in der ersten Fassung hätten enthalten sein können. Außerdem wurde das Kapitel über die weltweite Schulbewegung auf den neuen Stand gebracht.

Der gesamte Text aber wurde fast ohne Änderungen übernommen. Das ist zunächst einmal ein Indiz dafür, dass er so dicht komponiert ist, dass eine detaillierte Überarbeitung sicher schwierig gewesen wäre. Man fragt sich aber, ob nicht doch 1996, also fast 25 Jahre nach der Erstveröffentlichung und erst recht bei der heute erhältlichen 12. Auflage eine so aufwändige Dokumentation über die Waldorfpädagogik auch Abschnitte enthalten könnte über echte Neuentwicklungen [8], zur kritischen Reflexion der Praxis und zu offenen Fragen. Nimmt man unter diesem Aspekt das Buch noch einmal zur Hand, so fällt auf, dass zwar Aufgaben benannt werden – etwa die Ausweitung der Lehrerbildung und die Begleitung der Schulgründungen – dass aber die Darstellung insgesamt recht selbstgefällig wirkt.

Gibt es in der Waldorfschulbewegung wirklich keine Baustellen, die so interessant sind, dass es sich lohnen würde, sie zu besichtigen?

Diese Frage möchte ich hier so stehen lassen und zum Abschluss doch noch etwas auf den Titel des Buches «Erziehung zur Freiheit. Die Pädagogik Rudolf Steiners» eingehen. Dieser kann ja durchaus als Feststellung bzw. als Behauptung gelesen werden und insofern ist die Frage berechtigt: Was wird denn unter «Erziehung zur Freiheit» verstanden und wie genau wird zur Freiheit erzogen? Das ist ja sicher nicht primär eine Sache der Fächer und ihrer Inhalte.

Spürt man zunächst einmal mit seinem Sprachgefühl in den Titel hinein, ja eigentlich in die Räume zwischen den Wörtern, so kann man bemerken, dass ziemlich unklar ist, was mit ihm gemeint sein könnte.

Kann das denn überhaupt funktionieren, dass man einen Menschen zur Freiheit erzieht? Indem intensiv an ihm gezogen wird, wird der Schüler frei? Das ist natürlich etwas böswillig hineingelesen – und doch kann uns das deutsche Wort für das, was Erwachsene oft versuchen, mit Kindern zu veranstalten, gerade wegen seiner Bildhaftigkeit etwas sensibilisieren. [9] Und der Begriff der Freiheit in seiner Ambivalenz zwischen «Freiheit zu …» und «Freiheit von …» müsste sicher präzisiert werden.

Schaut man ins Inhaltsverzeichnis, so stellt man fest, dass sich in den Überschriften dreier kurzer Kapitel mit insgesamt acht Seiten das Wort Freiheit findet:

Im Abschnitt «Vom Freiheitsmotiv» [10] wird über die Bedeutung der Anthroposophie für den Lehrer gesprochen und darauf hingewiesen, dass sie kein Unterrichtsinhalt ist. Die Aufgabe des Lehrers sei es, «das ‹Ich› des Schülers nicht anzutasten, aber dazu beizutragen, dass das Instrument (des Köpers und der Seele) so gebildet werde, dass die Individualität (der Geist) einmal frei darin schalten und walten kann.» Es geht also in der Waldorfpädagogik um die Freiheit, sein «Instrument» souverän (be-) spielen zu können und dazu muss das Instrument «gebildet» werden. Kurz wird an dieser Stelle auf den Gedanken der Reinkarnation eingegangen. Er sei eine Hilfe für den Lehrer, wenn er eine «unrechtmäßige «Prägung»» der Schüler vermeiden wolle. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass «alles Erziehen … ein Beeinflussen ist.» Das Wesentliche sei, «dass die unvermeidliche Beeinflussung nicht uniformierend wirkt und dass sie andererseits eine Entwicklung fördert, die mit der eigenen persönlichen Anlage des Schülers übereinstimmt.» Lässt man einmal beiseite, dass es schwierig sein kann, die wirklich «eigenen» persönlichen Anlagen eines Schülers zu erkennen, zumal sie, wie man im Abschnitt über die Reinkarnation lesen kann, «weder aus der Vererbung noch aus dem Milieu abgeleitet werden können», stellt sich nun die Frage, auf welchem Wege diese Freiheit erreicht werden soll.

Im Kapitel «Autorität oder Freiheit» lesen wir zunächst: «Bei jungen Eltern und manchen Psychologen findet man die Ansicht, dass die heranwachsenden Kinder möglichst früh den Erwachsenen gleichgestellt werden sollen. Man spürt zuweilen liebevolle Bescheidenheit in dem Bestreben, kameradschaftlich und ohne ein Aufdrängen der Erwachsenenverantwortung mit den Kindern umzugehen. Es kommt aber auch vor, dass die kühnen Worte Freiheit und Gleichheit lediglich zudecken, dass man pädagogisch unsicher ist und sich vor der Verantwortung drückt.» [11]

Von diesem «1960er-Jahre-Trend» setzt sich die Waldorfpädagogik bekanntlich ab. Hier wird vom Schulkind gesagt, «dass es bis hin zur Pubertät Sehnsucht nach Autorität habe.» Rudolf Steiner führt dazu aus, dass es darauf ankäme, «dass gerade das, was Devotion, Verehrung des Lehrers, Liebe zum Lehrer ist, dass sich das in selbstverständlicher Weise ergibt.» [12]

Wenn allerdings im anschließenden Abschnitt «Über die Strafe» diese als Erziehungsmittel auch nicht im Ansatz in Frage gestellt wird, bin ich doch etwas irritiert. Stattdessen lese ich, «dass es sich darum handelt, mit der Strafe die Kräfte der Seele so anzuspannen, dass das Bewusstsein sich erweitert über Kreise, über die es sich vorher nicht erstreckt hat» (Steiner, Vortrag vom 1.2.2016) und dass ein Lehrer, der «gezwungen ist, wirkliche Strenge an den Tag zu legen», den Schülern keinen Anlass geben sollte, «tief im Innern an seinem Helferwillen irgendwie zu zweifeln.» [13]

Was soll sich der Leser vorstellen, wie es aussieht, wenn «wirkliche Strenge» an den Tag gelegt wird? Zumal, wenn kurz davor berichtet wird: «Eine körperliche Strafe … kann (früher) einen günstigen, aufweckenden Effekt gehabt haben. Aber heute «in unserem problematischen Dasein kann das Kind, das geschlagen wird, nur allzu leicht den Eindruck gewinnen, dass derjenige, der prügelt, nur aus Antipathie handelt.» [14] Und weiter: «Eine Autorität, die der Lehrer den Kindern zuliebe zu erwerben sucht, kann kein Hindernis für die Entwicklung zur Freiheit werden. Im Gegenteil.» [15] Welche Mittel sind denn in der Erziehung zur Freiheit erlaubt, wenn ich den Kindern zu Liebe doch einmal «wirkliche Strenge» an den Tag legen muss, um eine Autorität für sie zu sein?

Ich muss zugeben, dass mir beim ersten Durchlesen die Problematik dieser Formulierungen nicht aufgefallen ist. Nun aber bemerke ich, wie die Vorstellung, dass der Lehrer eine Autorität zu sein hat, dazu führen kann, den Einsatz durchaus fragwürdiger «Erziehungsmittel» zu legitimieren. [16]

Das letzte Kapitel des Buches hat den Titel «Erziehung zur Freiheit» als Überschrift und ist sehr kurz – es hat eine Seite. [17] Aus Sicht der Autoren sollte sich das, was mit Freiheit gemeint ist, «eigentlich überall unmittelbar aus dem Zusammenhang ergeben» und aus dem, was im Abschnitt «Vom Freiheitsmotiv» gesagt ist. «Dennoch wollen wir noch einmal hervorheben, was hier eigentlich unter ‹Freiheit› verstanden wird: Je reicher die Ausdrucksmöglichkeiten sind, die sich durch den physischen Organismus und durch die Seelenfunktionen dem menschlichen Ich darbieten, und je bewusster dieses Ich die Vielfalt dieser Anlagen nach seinen eigenen, auf selbständiges Denken gegründeten Entschlüssen verwenden kann, umso größer ist seine innere Freiheit. Wenn der Mensch die Verantwortung für seine eigene Weiterentwicklung in die Hand nehmen kann, ist das Register, das ihm jetzt zur Verfügung steht, weitgehend abhängig von den Diensten, die ihm seine Erzieher und Lehrer leisteten, als er sich noch in den Jahren der Kindheit und Jugend befand.» Und in enger Anlehnung an eine Formulierung Steiners in dem Vortrag vom 19.8.1922 abschließend: «Eine Pädagogik, die danach strebt, so viel wie möglich von den physischen und seelischen Hindernissen hinwegzuräumen, die sich der bewussten Herrschaft des Ich im Erwachsenenalter in den Weg stellen könnten, darf eine ‹Erziehung zur Freiheit› genannt werden.»

Das klingt wieder sehr überzeugend, hätte man nicht noch die Ausführungen über Autorität und Strafe im Hinterkopf: wie wird denn «weggeräumt» und wer entscheidet, was «weggeräumt» wird? Jahrzehntelang ist (nicht nur!) in den Waldorfschulen versucht worden, die Linkshändigkeit wegzuräumen. Das ist hoffentlich heute nicht mehr der Fall. Es wurde aber sehr grundlegend «waldorfpädagogisch» begründet und war sicher immer «gut gemeint». Das Beispiel zeigt aber, wie problematisch es sein kann, zu beurteilen, etwas sei ein «Hindernis». Das wird noch schwieriger, wenn man berücksichtigen will, dass zu dem Gedanken der Reinkarnation ja gehört, dass es Hindernisse geben kann, die biographisch einen Sinn haben.

Die in den letzten Absätzen durch die zitierten Passagen provozierten Fragen sind nicht waldorfspezifisch. Sie betreffen ganz grundsätzlich die Beziehung zwischen dem sich verantwortlich fühlenden Erwachsenen und dem Kind, das ja als sekundärer Nesthocker (Adolf Portmann) der Hilfe bedarf. Gerade weil aber die Waldorfpädagogik die Freiheit als große Perspektive hat, können diese Fragen hier in besonderer Weise ins Bewusstsein treten – sie sollten uns keine Ruhe lassen!

Den eingangs erwähnten Vater habe ich natürlich bereits angerufen und mit ihm über das gesprochen, was mir inzwischen aufgefallen ist. Sein Sohn ist derweil an einer Waldorfschule angemeldet. Die Klassenlehrerin kann sich auf Vater und Sohn freuen.

Mein Gesamteindruck ist, dass die «Erziehung zur Freiheit» eine zwar sehr geglückte, aber doch zeitgebundene Momentaufnahme der Waldorfpädagogik von vor 50 Jahren ist. Der Waldorfgeist der 1960er Jahre steckt zwischen den Zeilen. Zu Recht lebte seinerzeit das Bewusstsein, dass – bezogen auf die damals aktuellen Fragen – die Waldorfpädagogik gute Antworten hat. Eine Neuauflage, die den Zusatz verdient, aktualisiert zu sein, ist allerdings sicher nicht wie bisher mit so geringem Aufwand zu haben.


[1] Frans Carlgren, Arne Klingborg: Erziehung zur Freiheit. Die Pädagogik Rudolf Steiners, Stuttgart 1972. Im Folgenden abgekürzt als EzF. Die bei den Zitaten angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die 12. Auflage 2019.

[2] Das Vorhaben wurde auch von der Mahle-Stiftung unterstützt.

[3] H.J. Breiteneicher, R. Mauff, M. Triebe, Autorenkollektiv Lankwitz: Kinderläden. Revolution der Erziehung oder Erziehung zur Revolution? Reinbek 1971.

[4] A.S. Neill: Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill, Reinbek 1969.

[5] M.E. trug diese Diskussion entscheidend zu dem Paradigmenwechsel in der Sicht auf die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen bei. Von ihm kann man allerdings in den freien Alternativschulen mehr erleben als in manchen Waldorfschulen. Bei Manfred Borchert, einem der Gründer der Freien Schule Bochum und des Bundes Freier Alternativschulen, heißt es eben auch Erziehung in Freiheit und nicht Erziehung zur Freiheit. In seinem Aufsatz: Kinder können Freiheit lernen. https://www.freie-alternativschulen.de/attachments/article/71/Gr%C3%BCndungsmappe2013kurz.pdf.

[6] Ivan D. Illich: Entschulung der Gesellschaft. Entwurf eines demokratischen Bildungssystems, Reinbek 1971 und: Schulen helfen nicht. Über das mythenbildende Ritual der Industriegesellschaft, Reinbek 1972.

[7] Die Stimmung eines Aufbruchs wurde auch gefördert durch die in rascher Folge von Rowohlt herausgebrachten Taschenbücher: Johannes Hemleben: Rudolf Steiner, Reinbek bei Hamburg 1963; Christoph Lindenberg: Waldorfschulen: angstfrei lernen, selbstbewusst handeln. Praxis eines verkannten Schulmodells, Reinbek bei Hamburg 1975; Sönke Bai, Wilhelm Ernst Barkhoff u.a.: Die Rudolf Steiner Schule Ruhrgebiet: leben, lehren, lernen in einer Waldorfschule. Eine freie Schule sieht sich selbst, Reinbek bei Hamburg 1976. Hierzu gehört auch: Klaus J. Fintelmann: Die Hiberniaschule als Modell einer Gesamtschule, Stuttgart 1969.

Wer einen Eindruck gewinnen will, von dem, was damals im Bund los war, sollte den Artikel von Nana Goebel über Ernst Weißert lesen: Erziehungskunst – Waldorfpädagogik heute: Ernst Weißert. Baumeister der Waldorfschulbewegung

[8] Z.B. über das «Bewegte Klassenzimmer», die ersten inklusiven Waldorfschulen, den Waldorfabschluss etc.

[9] Die Engländer und die Franzosen haben es da mit educate bzw. éduquer und élever etwas besser.

[10] Alle Zitate in diesem Absatz: EzF, S. 114 und 115.

[11] EzF, S. 123. Ob man mit diesen Bemerkungen den Eltern gerecht wird, die sich bemühen, eine Beziehung «auf gleicher Augenhöhe» zu ihren Kindern, die von wechselseitigem Respekt geprägt ist, zu leben, sei dahingestellt.

[12] Beide Zitate: EzF, S. 123

[13] Alle Zitate: EzF, S. 124.

[14] EzF, S. 124.

[15] EzF, S. 125.

[16] Vielleicht ist dies mit eine Ursache dafür, dass das Leiden an Lernsituationen, in denen die Schüler überwiegend extrinsisch motiviert sind, auch an Waldorfschulen nicht sehr ausgeprägt zu sein scheint. Es gibt dazu zwar bisher keine wissenschaftliche Untersuchung, aber jeder der vielen Waldorfschüler, die im Laufe der Jahre hier auf dem Hof waren, berichtete von fragwürdigen Versuchen bzw. Methoden, Disziplin und Lernmotivation herzustellen. Auch in der EzF wird natürlich darauf hingewiesen, dass es an den Waldorfschulen kein Sitzenbleiben und keine Notenzeugnisse gibt. Einmal abgesehen davon, dass das wohl zumindest in der Oberstufe nicht mehr allgemein zutreffend ist, gibt es selbstverständlich viel subtilere Methoden, Autorität herzustellen und den Kindern und Jugendlichen das Lernen «beizubringen». Belohnung und Strafe aber auch Lob und Tadel sind letztlich jedoch Mittel der Konditionierung. – Als Vater und Lehrer ist mir bewusst, dass es hier nicht die reine Lehre gibt, gerade darum wäre das ein ganz neues Thema!

[17] Alle Zitate in diesem Absatz: EzF, S. 269 und 270.

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