Deine Gefühle sind wahr!

Wolfgang Held

Es gibt keine Stühle und keine Tische, kein Lehrerpult, nur eine Tafel und ein Klavier. Diese Leere lenkt die Aufmerksamkeit auf den Hörraum, auf ein Gedicht oder ein Musikstück. Während die meisten Unterrichtsfächer einen visuellen Schwerpunkt haben, zählt hier nur das Hören. Das einzige, was hier ist, das sind die elfte Klasse und die Eurythmielehrerin.

Zur heutigen Welt der Überfülle und Zerstreuung ist diese Sammlung und Konzentration auf sich selbst ein Kontrapunkt. Es gibt wohl keinen anderen Unterricht, in dem die Schüler so deutlich und immer wieder erleben können, dass Stille mehr ist als die Abwesenheit von Geräusch und Lärm.

In diese Ruhe stellen sich nun die Schüler der Oberstufe mit ihrer Lehrerin im Kreis und neigen sich nach hinten, als würden sie sich an eine imaginäre Wand lehnen, und dann nach vorne. Was als unbewusstes Pendeln in der Senkrechten ständig geschieht, wenn man aufrecht steht, das wird hier bewusst ergriffen. 

Manchmal spricht Jutta Rohde-Röh den Vokal »A«, wenn es nach hinten geht, und ein »O«, wenn man sich nach vorne, der Welt zuneigt, und schließlich ein »I«, wenn man in dieser labilen Mitte senkrecht steht. Es ist ein »Beeindrucktwerden«, wenn die Welt einen zurückweichen lässt, und ein »Beeindrucken«, wenn man auf sie zugeht. Das Atmen ist das fortwährende Spiel dieser zwei Haltungen zur Welt. In vielen alten Sprachen gilt für den Atem und die Seele das gleiche Wort. 

Diese gemeinsame Bedeutung unterstreicht, dass das Atmen nicht nur Leben und Beseelung möglich macht, sondern dass das seelische Leben und das Spiel von Aus- und Einatmung zwei Seiten einer Medaille sind.

Zurück zur Stunde: Wieder im Kreis laufen jetzt Einzelne hinter ihrem rechten nächsten Nachbarn und vor ihrem übernächsten Nachbarn – aus dem Kreis der Stehenden wird ein strömender Kreis. 

Dann erklingt ein Stück von Debussy. Manche laufen eine Form, die der Bassstimme entspricht, andere folgen mit ihrem Schritt der Melodiestimme.

Immer wieder fragt Rohde-Röh, wie die Schüler denn dies oder das erleben würden. Das Empfindungsvermögen der Schüler ist der Gradmesser, das eigene Erlebnis zählt. Manchmal schildert sie auch, was sie sieht, und versichert sich, ob das denn stimme. Manchmal hält sie, konzentriert auf die Bewegungen und die Schritte der Schüler, ihre Hand vor den Mund. Diese Aufmerksamkeit gibt den Schülern Vertrauen und fordert doch Präzision. Es herrscht eine Arbeitsatmosphäre. »Sollen wir hier parallel laufen?«, will ein Schüler wissen, und Rohde-Röh spielt den Ball zurück: »Was meinen Sie denn? Wie soll das Stück enden? Wer hat eine Idee?«.

Die Jugendlichen stehen herum und überlegen, es kommen einzelne Vorschläge, die die Lehrerin mit wiegendem Kopf wiederholt, damit jeder einsteigt. »Hört noch mal zu.« Das Stück erklingt noch einmal, während die Schüler frei im Raum stehen, nach dem letzten Ton ist dann Stille ...

Dann geht es um eine Choreografie zur Geschichte von Kaspar Hauser. Ein Junge spielt den einsam ausgesetzten Hauser und sitzt dabei auf dem Boden – in der Mitte und doch ganz verloren. »Wie war das für Sie, so zu sitzen?«, fragt Rohde-Röh. Es gibt wohl kaum ein anderes Schulfach, in dem die Gefühle der Schüler so ernst genommen werden.

Und wieder Wechsel: Kein Thema ist im Unterricht lange dran. Nun ein Gebet der Hopi-Indianer: 

»Der Stein spricht«

Ich bin ein Stein,
ich habe Leben und Tod gesehen,
ich habe Glück erfahren, Sorge und Schmerz.
Ich lebe das Leben der Felsen.
Ich bin ein Teil unserer Mutter Erde.
Ich fühle ihr Herz schlagen an meinem,
ich fühle ihren Schmerz …

Von T-Lauten in Tod und Teil und »E« in Leben, Fels und Erde geht es zu »S« und »Sch« in Sorge, Schmerz und mündet schließlich mit dem »U« im Universum und im Grund. – »Spürt ihr euer Herz? Spürt ihr das Herz der Erde?«, fragt Jutta Rohde-Röh. 

Bei der Zeile »Ich bin ein Teil unseres Vaters, des großen Geheimnisses« weiten die Jugendlichen erst die Arme – Verehrung für den Vater – und drängen sich dann im engen Kreis zusammen, und mit einem Mal meint man das Geheimnis vor sich zu sehen. Wenn die Natur dann spricht: »Ich habe die Kraft zu heilen, doch du musst mich suchen«, bilden die Schüler eine Gasse, durch die ein einzelner Schüler schreitet. Es ist ein magischer Moment. »Das ist Seelenarbeit«, sagt mir später Jutta Rohde-Röh, »und ich versuche eine Atmosphäre zu schaffen, in der die Schüler Fragen stellen.«

Beziehungsbildung

Eine Stunde später übt ein freies Ensemble von der 9. bis zur 12. Klasse an der Interpretation von Edvard Griegs Suite »Aus Holbergs Zeit«. Die Pianistin ersetzt virtuos das Streichorchester. Einige Schüler stehen in einer Reihe, eine Mauer, durch die drei Jungen brechen: die dramatische Melodie der Celli. Dann kommen feine Geigenklänge, und entsprechend zarter sind die Figuren, die nun einige Schülerinnen laufen. 

Als eine Schülerin quer durch den Eurythmiesaal rennt, ruft Rohde-Röh hinein: »Es gibt nicht den Ort, wo ihr sein müsst, es geht um die Beziehung!« Die ist aber komplex; weil sich die einzelnen Stimmen umspielen und durchdringen, müssen die Schüler um ihre Mitschüler laufen, die sich selbst aber auch bewegen. »Das macht wach«, kommentiert die Lehrerin.

Beim Anblick der Eurythmie zur Holberg-Suite wurde es mir klar: Hier übt die Seele, sich zu zeigen, indem sie durch den Körper im Raum den Klang – auch den unhörbaren – in Bewegung sichtbar macht. In einer Zeit, in der der Ausdruck des Inneren und Eigenen immer wichtiger wird, ist das eine wichtige Schulung.

Schon ist die Stunde vorbei, und nach kurzem Lüften kommen jetzt Fünftklässler herein. Wieder beginnt es mit Laufübungen im Kreis. Die Atmosphäre ist nüchtern und konzentriert zugleich. Die Form, die die Kinder laufen, wird komplizierter: Jetzt sind es zwei Kreise, die sich ineinander verschlingen, die vor- und zurückpulsieren und zu einem großen Kreis verschmelzen, um wieder zu zweien sich aufzuspalten. Dabei hören die Kinder nicht auf zu laufen. Es ist ein Wirbel. 

Ich zähle sechs Ebenen, auf die die Kinder achten müssen: die Schritte, die Gebärden, mit denen sie einzelne Laute oder Töne darstellen, die Musik, den Rhythmus, die Mitschüler, um nicht zusammenzustoßen, und schließlich sich selbst.

Stille atmen

Am Schluss gibt es die längste Minute der Woche, es ist auch die stillste: Die Schüler stehen am Ende der Eurythmiestunde im Kreis und lassen als ein gemeinsames Echo die Stunde nachklingen. Selten murrt oder tuschelt jemand, denn alle haben die Erfahrung gemacht, dass in dieser Stille manchmal etwas anwesend ist, das einen tiefer, als es im Alltagsleben möglich ist, sich selbst begegnen lässt. Diese Tür zu sich selbst öffnet sich nicht auf Knopfdruck. Weil man die Musik in Bewegung bringt, lernen die Ohren immer besser zu hören und schließlich zu lauschen.

Die Stille ist dann die Frucht eines ausführlichen Hinhörens. Dieses bloße Hören öffnet die Tür in eine andere Welt – eine andere als die äußere. In der Eurythmie geht es fortwährend darum, einen Hörraum herzustellen, um im Gehörten das Unhörbare, das Unerhörte ergreifen zu können. Das Eigentliche der Musik sind nicht die Töne, sondern was die Töne zu erzählen wissen, was als Unhörbares in der Musik lebt, das will Eurythmie sichtbar machen.

Eurythmie zieht sich durch die ganze Schullaufbahn, von der 1. bis zur 12. Klasse. Es beginnt mit spielerischen Kreisbewegungen zu steigenden und fallenden Melodien, zu Versen über Wind und Wetter, Zwerge und Riesen oder Jubel und Trauer. Zwanglos und spielerisch sollte sich hier die Liebe der Kinder zur Bewegung mit den Gesetzen von Ausdruck und Gebärde verbinden. Wenn mit der Pubertät die eigenständige Persönlichkeit erwacht und ihren Ausdruck sucht, bietet die Waldorfschule mit Plastizieren, Malen, Vokal- und Instrumentalmusik, Theater und Eurythmie eine Palette an Übungsfeldern, das Innere der Seele künstlerisch zum Ausdruck zu bringen. Für die Eurythmie heißt das: Es zahlt sich aus, dass man damit vertraut ist, sich in seiner Bewegung zu zeigen. Gelingt eine eurythmische Präsentation kann sie nahezu etwas Heiliges haben, weil hier die Maske abfällt, alles Gehabe erlischt. Der Leib kann sich nicht verstellen.

Zum Autor: Wolfgang Held studierte Pädagogik und Mathematik und war viele Jahre Mit­arbeiter in der Mathematisch-Astronomischen Sektion am Goetheanum in Dornach. 

Er ist Beauftragter für Kommunikation und Autor zahlreicher Bücher.