Der erste Freiwillige

Erziehungskunst | Herr Precht, vor einigen Monaten sind Sie aus Haiti nach Deutschland zurückgekehrt. Was haben Sie dort gemacht?

Rasmus Precht | Nach dem Erdbeben im Januar 2010 hat mich UN-Habitat nach Haiti entsandt. Ich war für die Gemeindeplanung in Slums zuständig, wo die UNO die Umwandlung von Trümmern in Materialien für den Wieder- aufbau förderte. Die letzten zwei Jahre in Haiti habe ich dann in Les Cayes Projekte zur Neugestaltung öffentlicher städtischer Räume, Küstenschutz und Slumsanierung gemanagt. Die größte Herausforderung bestand darin, in Haiti, das oft als »Failed State« eingestuft wird, bei all den herrschenden Schwierigkeiten nicht den Glauben an einen möglichen Fortschritt zu verlieren.

EK | Wie kamen Sie als 19-Jähriger auf die Idee, über die »Freunde« als Freiwilliger ins Ausland zu gehen?

RP | Ich verbrachte meine ersten fünf Schuljahre an der Albert-Schweitzer-Schule in Hamburg. Mein Klassenlehrer brachte uns das Lebenswerk Schweitzers sehr nahe – zum Beispiel wie er ein Krankenhaus im heutigen Gabun gegründet und betrieben hat und dafür sein komfortables Leben in Europa aufgab. Das beeindruckte mich sehr und weckte in mir die Neugierde für Afrika. Als Oberstufenschüler an der Rudolf Steiner Schule Hamburg-Wandsbek interessierten mich besonders die politischen und sozialen Transformationsprozesse, die damals stark mit der außergewöhnlichen Persönlichkeit Nelson Mandelas verbunden waren. Deshalb schien mir die interessantere Alternative zum üblichen Zivildienst ein Freiwilligeneinsatz im Ausland zu sein. Die Camphill Schule in Hermanus in der Nähe von Kapstadt bot mir diese Möglichkeit. Und die »Freunde der Erziehungskunst« waren bereit, ein Pilotprojekt zu initiieren.

EK | Wie reagierte Ihr Umfeld darauf?

RP | Meine Eltern unterstützten dieses Vorhaben von Anfang an. Um die für den Auslandseinsatz nötigen Versicherungen zu finanzieren, gründete ich einen Förderkreis von Menschen, die auf ein Spezialkonto bei den »Freunden« spendeten. Dafür verpflichtete ich mich, regelmäßig – damals noch per Luftpost – über meine Erfahrungen zu berichten. Diese Menschen begleiteten mich während meines mehr als zweijährigen Aufenthalts in Südafrika und ich fühlte mich, auch in schwierigen Phasen, von diesem Kreis getragen.

EK | Was erlebten Sie auf Ihrer ersten Station?

RP | In der Camphill Schule in Hermanus arbeitete ich ein Jahr als Betreuer und Lehrer. Dort galt es, die Camphill-Philosophie der totalen Hingabe an die Kinder zu verinnerlichen. Es war neu für mich, vom Aufstehen bis zum Schlafengehen »im Dienst« zu sein, nur einen freien Tag in der Woche zu haben und auch in den Schulferien arbeiten zu müssen. Die Begegnung mit einem autistischen Jungen gehört zu meinen schönsten Erfahrungen. Nachdem mir seine außergewöhnliche musikalische Begabung aufgefallen war, musizierten wir viel gemeinsam.

In diese Zeit fiel auch die Wahl Mandelas zum ersten demokratischen Präsidenten des Landes. Mich zog es in das »Neue Südafrika« hinaus. Ich machte ein Praktikum bei der Gemeindeentwicklungsorganisation »New World Foundation« in einem Township bei Kapstadt und freundete mich mit den jungen Menschen dort an, was schließlich zu einem Auftritt der Musik-, Tanz- und Theatergruppe aus dem Township auf der Camphill-Farm führte.

EK | Welche weiteren Einsatzorte folgten?

RP | Ich wechselte an die Meadowsweet Farm School in der Provinz Kwa-Zulu-Natal. In dieser Einrichtung für schwarze Farmarbeiterkinder unterrichtete ich Englisch, Biologie und Sport in der Mittel- und Oberstufe. Nachmittags unterhielt ich eine Theatergruppe und trug zur Mobilisierung weiterer Spenden zugunsten der Schule und Gemeinwesenentwicklung bei. Diese Arbeit gefiel mir so gut, dass ich den Freiwilligendienst von den damals obligatorischen eineinhalb auf fast zweieinhalb Jahre ausweitete.

EK | Worin bestanden die Herausforderungen?

RP | Auf der Meadowsweet Farm versiegte wegen einer langen Dürre die Quelle, die Farmbewohner und Schule mit Wasser versorgte. Wir »Zivis« fanden gemeinsam mit dem Farmmanager eine nachhaltige Lösung: Der Nachbarfarmer willigte ein, dass wir in Eigenarbeit einen alten Wassertank auf seiner Farm ausbesserten, um ihn stets mit Wasser aus einem Bohrloch vollpumpen zu lassen. Zudem legten wir Wasserleitungen zu den Wohnhäusern und in die Schule.

Für mein weiteres Leben waren zwei Eindrücke aus meiner Freiwilligenzeit besonders prägend: Das gewollt minderwertige Bantu-Bildungssystem sowie die Wohn- und Lebensbedingungen der schwarzafrikanischen Bevölkerung im Apartheid-System auf dem Lande wie auch in der Stadt. Beides war für mich schockierend. Das Bildungssystem für Schwarze im südafrikanischen Rassenstaat war gezielt so angelegt, dass schwarze Menschen nur das lernen sollten, was sie als gefügige und billige Arbeitskraft mit Minimalbildung für das von Weißen geführte Ausbeutungs- und Unterdrückungssystem nützlich machte. Generationen von Menschen in dieser Gesellschaft ist es so verwehrt worden, ihr Potenzial in Bildung und Ausbildung zu entwickeln und ein menschengerechtes Leben zu führen. Die riesigen, am Reißbrett geplanten Townships nur für Schwarze und »Coloureds« (Asiaten) wurden weit außerhalb der organisch gewachsenen Innenstädte angelegt, mit den vielen sozialen Folgeproblemen, die eine solche »Ghettoisierung« erzeugt. Noch schlimmer waren die Bedingungen in den wilden Slums, die in den letzten Apartheid-Jahren auf allen möglichen Freiflächen entstanden waren und oft über gar keine Infrastruktur und städtische Dienstleistungen wie Schulen, Strom, Wasser und Abwasser verfügten.

EK | Wie haben diese Erfahrungen Ihren weiteren biographischen Werdegang beeinflusst?

RP | Mit dem Ziel, konkret etwas zur Verbesserung der Chancengleichheit für Jugendliche in Afrika zu tun, richtete ich gemeinsam mit einem anderen »Zivi« aus der Meadowsweet Farm School nach meiner Rückkehr nach Deutschland den »Lucky Mazibuko Stipendienfonds« ein. Der bei den »Freunden« angesiedelte Fonds hat seither über 15 Stipendiaten aus Südafrika, Tansania und Kenia den Schul- und Universitätsbesuch ermöglicht.

Grundsätzlich hat der Freiwilligendienst in mir das Interesse für alles Internationale verstärkt. Ich studierte Entwicklungspolitik und Stadtplanung und spezialisierte mich auf Slumsanierung und (Selbsthilfe)-Wohnungsbau. 2005 gelangte ich zu einer Anstellung bei UN-Habitat, wo ich neun Jahre blieb, davon die letzten vier in Haiti.

EK | Wenn Sie Lehrer im jetzigen Bildungssystem in Deut-schland wären, was für ein besonderes Anliegen hätten Sie?

RP | Ich würde versuchen, meine Schüler von der Idee eines Freiwilligendienstes im Anschluss an die Schulzeit zu begeistern. Es ist der ideale Zeitpunkt, um zumeist erstmals die eigene »Komfortzone« von Elternhaus, Schule und Freundeskreis zu verlassen, um sich für eine Zeitlang auf ein völlig neues Umfeld mit anderer Kultur, Sprache und ökonomischer Realität einzulassen. Der Blick aus der Entfernung macht den Blick auf die eigene Kultur kritischer. Das, was bisher normal war, erscheint plötzlich als Privileg oder etwas, das man vielleicht ändern möchte. Wenn man im Ausland ankommt, ist man ein unbeschriebenes Blatt und noch in keiner »Schublade«. Das hat den Vorteil, dass man auch eigene Schwächen überwinden und persönlich wachsen kann.

EK | Sie sind auch als Botschafter unterwegs. Was sind Ihre bisherigen Erfahrungen?

RP | Bei Vorträgen, die ich in Schulen in der Zeit unmittelbar nach meinem Freiwilligendienst hielt, schien mir das Interesse der Schüler groß zu sein, für derartige Erfahrungen nach der Schulzeit ins Ausland zu gehen. Für Oberstufenschüler, die am Freiwilligendienst interessiert sind, ist es wichtig, im Bewusstsein zu haben, dass jeder Dienst absolut individuell ist und jeder für sich selbst das Beste daraus machen muss.

Die Fragen stelle Mathias Maurer