Der Herbert Wehner der Waldorfschulbewegung

Mathias Maurer

Gab er einen Beitrag in einem der vielen Gremien des Bundes der Freien Waldorfschulen, durften die Zuhörer »Profil« erwarten: Leise begann seine Rede, mit einem Donnerschlag endete sie. Man könnte ihn auch als den Herbert Wehner der Waldorfschulbewegung bezeichnen. Mancher hätte ihn gerne auch im Bundesvorstand gesehen, denn sein politisches Händchen, seine freundliche Hartnäckigkeit und sein argumentatives Geschick waren bezwingend. Das zeigten seine zahlreichen bildungspolitischen Erfolge und wirtschaftlichen Vernetzungen in seinem Bundesland. Staatssekretär Alexander Lorz würdigte ihn als eine bedeutende Stimme in der hessischen Bildungslandschaft. Daher feierte sich Norbert Handwerk am 6. Juni auch nicht mit einem persönlichen Abschied, sondern mit einer bildungspolitischen Fachtagung zum Thema »Bildung oder outcome«, für die er namhafte Referenten aus der Gewerkschaft, katholischen Kirche, Hochschule und dem Unternehmerverband gewinnen konnte.

In seiner Jugend war Handwerk in der katholischen Jugendarbeit engagiert. In Frankfurt organisierte er als Student der Politologie und Germanistik das Juso-Café. In der Stud-AG waren er und seine Freunde als »Musketiere« bekannt. Sein Kommilitone Walter Hiller, heute bei der Software-AG-Stiftung, erinnert sich, dass seine staatsbürgerliche Treue ihn damals durchaus zum Offiziersanwärter prädestinierte. Seine Examensarbeit hieß denn auch »Vernunft und Politik« – ein Lebensmotto Handwerks. Doch nach kurzer Zeit quittierte er den Dienst, verweigerte und machte Zivildienst. Handwerk wurde Gymnasiallehrer an einer Ganztagsschule in Frankfurt. Nebenher bildete er sich zum Waldorflehrer aus. Kurzerhand implementierte er Waldorfelemente in seinen Unterricht. Nach zehn Jahren gab er seinen bequemen Beamtenstatus auf und gründete nach einem Sabbatical in einer heilpädagogischen Einrichtung in Kirgistan die Rudolf-Steiner-Schule Dietzenbach mit, wo er als Klassen- und Oberstufenlehrer bis 1999 unterrichtete. In der darauf folgenden Zeit als Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Waldorfschulen in Hessen begann Handwerk den Waldorfhimmel zu durch­- kreuzen. Ein Herzensanliegen war ihm die Qualitätsentwicklung, die er beharrlich vorantrieb, bis schließlich die 21. Fassung der »Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bund der Freien Waldorfschulen« verabschiedet werden konnte. Er mischte sich prononciert in die Inklusionsdebatte ein. Die Öffentlichkeitsarbeit auf Bundes- und Landesebene bekam ein Gesicht durch seinen Hessenrundbrief. Regelmäßig diskutierte er bei erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Expertenrunden auf Hochschulebene mit.

Handwerk war Mitglied und Vorstand des European Council of Steiner Waldorf Education und des Hessischen Ganztagsschulverbandes. Er gehörte zu den Motoren des Schüler­kostenvergleichs – den sogenannten Steinbeiß-Studien – der heute als Berechnungsgrundlage der staatlichen Bezuschussung der Waldorfschulen von den Ministerien zunehmend akzeptiert wird.

Handwerks Herz schlug nicht nur für das Unterrichten, sondern vor allem für das Freiheitsrecht des Kindes. Da Bildungsprozesse »ergebnisoffen« verlaufen – was laut Handwerk »viele Eltern in ihrer bildungsbürgerlichen Erwartungshaltung schmerzhaft erfahren«, und jedes Kind in seiner freien individuellen Entwicklung im Vertrauen auf seine Zukunft unteilbar ist, müsse sich diese Erkenntnis auch in den Schulen abbilden. Eigentlich müsse jedes Kind gegen das System revoltieren. Zumindest müsse aber den Schulen die größtmögliche Autonomie von politischer und ökonomischer Einflussnahme zugestanden werden.

Handwerk hatte sich das Thema seiner Abschiedstagung auf den Leib geschneidert, denn hinter Standardisierungs- und Modularisierungswahn und der Kompetenzinflation stehen seit der Lernvergleichsstudie Pisa und der Bologna-Reform des europäischen Hochschulwesens unverkennbar »ökonomische und sozialtechnologische Steuerungskonzepte, die der Pädagogik schaden«, wie der Vortragsredner Jochen Krautz von der Alanus Hochschule ausführte. Im Zentrum müsse jedoch die Lehrer-Schüler-Beziehung stehen, die ein zentrales Element aller Lernprozesse sei, und nicht das Menschenbild des »Homo oeconomicus«, das die Mündigkeit und Selbstbestimmung des Menschen, die dem Grund­gesetz zugrunde lägen, schleichend unterwandere.

Der 6. Juni ist der Tag des Heiligen Norbert, der als Wanderprediger begann und schließlich Erzbischof von Magdeburg wurde. Sein Ruf war umstritten, haftete ihm doch der Ruf des Ketzers an. Norbert Handwerk wollte keine Parallelen dazu ziehen – aber die Waldorfwelt wird ihren Ketzer vermissen. In diesem Sinne bedankte sich Bundesvorstand Henning Kullak-Ublick für sein unbequemes, aber immer loyales Engagement.