Die Angst in den Augen der Menschen

Erziehungskunst | Was hat Sie dazu gebracht, bei Sea-Watch ehrenamtlich anzuheuern?

Oscar Schaible | Im Jahr 2016 starben mehr als 4000 Menschen beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren.1 Dagegen wollte ich etwas tun und habe mich dann bei verschiedenen zivilen Hilfsorganisationen beworben. Wir genießen sehr viele Privilegien. Ich kann studieren und ein unbeschwertes Leben führen. Das Mindeste was wir tun können, ist, die Menschen, die nach so einem Leben suchen, nicht im Mittelmeer ertrinken zu lassen.

EK | Ein Fernsehteam des NDR begleitete im Sommer 2019 die Sea-Watch 3 unter dem Kommando von Carola Rackete. Die Aktion endete mit einer nach italienischer Auffassung widerrechtlichen Landung im Hafen von Lampedusa und sorgte für weltweiten medialen Rummel. Rackete wurde anschließend verhaftet. Wie erlebten Sie diese dramatische Situation?

OS | Ich arbeitete bei der Einfahrt in den Hafen an Deck und war mit der Vorbereitung der Leinen beschäftigt. Nachdem wir festgemacht hatten, hatte ich Gelegenheit und Zeit, mir das Treiben am Kai anzuschauen. Was ich erlebte, war die komplette europäische Flüchtlingsdebatte auf ein paar Quadratmetern. Viele Unterstützer, die uns applaudierten, auf der einen Seite, wenige, aber sehr laute Menschen auf der anderen Seite, die uns und den Geretteten den Tod wünschten. Dazwischen die komplett überforderten und ratlosen Behörden, beleuchtet von den Blitzen und Lichtern unzähliger Kameras. Das mitzuerleben, hat mich tief getroffen und emotional aufgewühlt. Die Angst in den Augen der Menschen zu sehen, nachdem wir fast drei Wochen mit ihnen auf dem Meer ausharrten und sie dabei kennenlernten, war sehr schwer. Nach dem, was diese Menschen in Libyen und auf ihrer Reise erlebt hatten, wünschte ich mir, dass sie mit mehr Freundlichkeit und Wärme empfangen worden wären.

EK | Sea-Watch, wie auch anderen privaten Organisationen, wird vorgeworfen, mit ihren Aktionen noch mehr Flüchtlinge aufs Meer zu locken und damit die Drecksarbeit der Schlepper indirekt zu unterstützen. Ist der Vorwurf gerechtfertigt?

OS | Dieser Vorwurf wurde empirisch entkräftet. Zahlen belegen eindeutig, dass Menschen die Überfahrt in seeuntauglichen Booten wagen, auch wenn keine zivilen Seenotrettungsorganisationen im Mittelmeer unterwegs sind.2 Der einzige kausale Zusammenhang, der in diesem Kontext besteht, ist, dass je weniger Rettungskapazitäten im Mittelmeer präsent sind, desto mehr Menschen bei der Überfahrt sterben. 2018 lag die Todesrate durchschnittlich bei 1:14. Eine von 14 Personen hat bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, ihr Leben verloren. Zu Höchstzeiten lag die Todesrate bei 1:8. Die Dunkelziffer ist vermutlich deutlich höher.3

EK | Der Verpflichtung, aus humanitären Gründen Menschen zu retten, müssen politische Lösungen folgen, um zu verhindern, dass sich Flüchtlinge in Seenot bringen und unter unzumutbaren Umständen wochenlang auf dem Meer ausharren müssen, bevor sie einen Hafen finden, der sie aufnimmt. Was schlagen Sie vor?

OS | Abgesehen von der Rettung der Menschen und der Einhaltung des Seerechts geht es darum, die berühmten Fluchtursachen zu bekämpfen, Konflikte zu beenden und den Menschen eine Perspektive zu geben. Es darf nicht vergessen werden, dass wir als Seenotretter nicht in der Position sind, Lösungen für komplexe politische und globale Probleme zu liefern. Wir reagieren nur auf die aktuelle Situation und versuchen fundamentale Menschenrechte, wie das Recht auf Leben, zu wahren. Momentan wird auf Abschreckung gesetzt, indem die Menschen absichtlich so lange von einer Landung abgehalten werden, bis sie entweder nicht mehr gerettet werden können, oder libysche Milizen, finanziert und koordiniert von der EU, sie wieder zurück nach Libyen bringen, wo sie Folter und Ausbeutung schutzlos ausgeliefert sind. Zusätzlich wird die Arbeit derer, die helfen wollen, erschwert und kriminalisiert.

EK | Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass es sich bei den Flüchtlingen in erster Linie nicht um politische, sondern um männliche Wirtschaftsflüchtlinge handelt und dass die Probleme vor Ort, das heißt in deren Herkunftsländern, gelöst werden müssten?

OS | Die Pflicht, Menschen aus Seenot zu retten, niedergelegt in Art. 98 (1) des UN Seerechtsübereinkommens, ist nichtdiskriminierender Natur. Wer in Seenot gerät, muss gerettet werden, unabhängig davon, woher er kommt, warum er in Seenot geraten ist, was seine Beweggründe sind und was sein rechtlicher Status ist.4 Die Frage, wer später Asyl gewährt bekommt, stellt sich nicht auf dem Meer, sondern an Land. Es ist komplett realitätsfern und zynisch, eine solche Selektierung auf See zu fordern.

EK | Sie sind wochenlang mit Gleichgesinnten auf dem Meer unterwegs. Was treibt Sie und ihre Kollegen zu diesen Einsätzen an?

OS | Der Wille, etwas gegen das Sterben an der tödlichsten Außengrenze der Welt zu tun, vereint uns. Oft lernen wir uns alle erst an Bord kennen. Teamfähigkeit ist dabei besonders wichtig. An Bord legen wir sehr viel Wert auf einen rücksichtsvollen Umgang miteinander. Es wird aufeinander aufgepasst und man hat immer eine Ansprechperson. Somit erreichen wir ein hohes Level an Vertrautheit innerhalb der Crew, aus dem wir die Kraft und Motivation schöpfen, stressige und emotional aufgeladene Situationen zu überstehen.

EK | Nach Ihrem Jura-Studium wollen Sie weiter in der Flüchtlingshilfe aktiv sein. Welche Zukunftspläne haben Sie?

OS | Ich habe mein Studium letzten Sommer abgeschlossen und warte auf einen Referendarplatz. Langfristig würde ich mich gerne für die Einhaltung der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts einsetzen, sei es auf nicht-staatlicher oder staatlicher Ebene. ‹›

Literatur und Links:

1) missingmigrants.iom.int/region/mediterranean

2) E. Steinhilper, R. Gruijters (2018): »A Contested Crisis: Policy Narratives and Empirical Evidence on Border Deaths in the Mediterranean«. In Sociology 2018, Vol. 52(3) S. 515–533. https://t1p.de/sf28 (Letzter Zugriff am 28.10.2019)

3) unhcr.org/desperatejourneys/; https://t1p.de/afr2.

4) SOLAS Konvention Annex Kapitel V Reg. 33(1); SAR Konvention Annex para. 2.1.10