Die Schule des Quellenwächters

Gilda Bartel

Johannes hatte lange geprüft und abgewogen. Sieben Jahre lauschte er, beobachtete das Leben und schließlich zeigte sich ihm, was hier werden wollte. Er nannte ihn »Neumühle«. Abschüssig war das Gelände, im Rücken gesäumt von Buchenwald und dem alten »Großvater« Eichbaum, an dem Johannes mit seinen Schülern zu frühstücken pflegte. Weiche Hügel spielten in der Landschaft. Die Schule war von sieben Quellen umgeben, welche den Fluss speisten, der sich durch die Wiesen schlängelte. Sie wurden Johannes Zeichen der Erneuerung. Ein kleines Boot lag am Seitenarm des Gewässers vertäut, um als Gefährt für Erkundungen und Spiel benutzt zu werden. Wenn der Sommer sich neigte, nahm Johannes eine neue Schülerschar für ein Jahr bei sich und seinen Helfern auf. Diese Zeit war den Kindern zur Reife und Ruhe, zum Atmen und Bewegen bestimmt. Man gab sie vertrauensvoll in die Obhut von Johannes. Er empfing sie in Güte und Liebe, aber auch mit selbstverständlicher Autorität.

Die Steine auf ihren Sternenwegen zu erspüren, waren Johannes und seine Helfer gewillt, nicht ohne zuvor die Steine auf den eigenen Wegen zu betrachten und zu verwandeln. Oft zeigte sich auch, dass diese Steine nicht Hindernis, sondern Brücken auf dem Weg waren.

Alles vollzog sich jedoch langsam und in Frieden, ohne Hast, ohne Zwang, im Schutze eines unsichtbaren Rosenhags, der die Schule vor zudringlichen Blicken bewahrte.

Jedes Jahr wieder musste Johannes lauschen, wollte er die Neumühle weiter entfalten. Was wollte werden mit der Schule, mit den Kindern, mit der Zukunft? Welche menschlichen Qualitäten galt es auszubilden? Was galt es zu entwickeln, um ihnen Schritte ins Leben zu ermöglichen? Er schloss die Kinder in sein Lauschen ein. Ja, es schien ihm manchmal sogar, es habe für die umgebende Landschaft eine Bedeutung, dass Kinder hier ihre Sinne betätigten, sangen, lachten, staunten, sich diesem Orte widmeten. Wie viele Landstriche lagen brach, gleich Bettlern um menschliche Aufmerksamkeit?

Die Neumüller wirkten im Alltäglichen, vertrauten auf den Lauf der Dinge, verrichteten ihre Arbeit. Im Zusammentreffen von Natur und Kultur lag die lebensvolle Energie. An manchen Tagen war Johannes nur damit beschäftigt, das Holz für den Winter zu spalten und zu stapeln. Er war tätig und die Kinder waren es auch, in ihrer Art und Weise, kindlich und frei. Einige halfen ihm, andere hatten in der Erdhöhle zu tun oder machten Feuer am großen Rondell. Johannes forderte sie nie auf, mitzuarbeiten und sagte ihnen nicht, was sie tun sollten. Das geschah von allein. Nur zu einer Stunde des Tages, am Morgen, fanden sich alle ein in dem großen Gemäuer, wo der Lehmofen eine wohltuende Wärme verbreitete, wenn die kalte Jahreszeit anbrach. Dort standen eine Tafel und kleine Bänke. Johannes erzählte den Kindern Geschichten oder übte mit ihnen, Figuren zu legen aus dünnen Fäden, die sich beständig wandelten. So manches Mal hatten sie viel zu lachen, ob irgendwelcher Eigentümlichkeiten, die dabei zutage traten. Und Johannes mochte es sehr, wenn gelacht wurde. Doch waren sie auch ernsthaft und gewahrten gemeinsam die stillen Bedeutsamkeiten des Lebens. Nie länger als eine Stunde hielt er sie beisammen. Johannes fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn er die Kinder nicht herbeirief, sondern lediglich bekannt geben würde, dass er jetzt in den Unterrichtsraum gehe. Er war ein Forschender, der bedächtig schaute und nach den Notwendigkeiten suchte, die die Kinder brauchten. Alte Formen stellte er in Frage und wollte die Neumühle am liebsten gar nicht Schule genannt wissen. Aber ein anderes Wort war ihm noch nicht in den Sinn gekommen. Viele Kinder hatte er beobachtet. Er wollte erfahren, was sie tun würden, wenn er ernst nahm, dass sie Selbsterziehende seien, wenn man ihnen nur genug Raum dafür lassen würde.

Nach dem Unterricht zogen sie spielend zum Frühstücksplatz, vorbei an den Schafen und Rindern, entlang der Äcker und Felder, Wildrosen und Holundersträucher. Der Hund von Johannes lief stets nebenher. Nach dem morgendlichen Gang, der sie an der Butterquelle vorbeiführte, kehrten sie zurück und verstreuten sich in ihre Geschäftigkeiten. Sie filzten Sitzkissen oder rösteten Maronen, banden kleine Kräuterbündel und hängten sie über den Ofen. Wenn der Arbeit Freude am Gestalten und Verschönern oder auch eine erkennbare Notwendigkeit zugrundelag, war sie gut. Denn dann konnte Johannes sehen, wie die Kinder ganz von selbst in ihr Spiel fanden. Holzreste wurden zu einem Flughafen, Abfälle verwandelten sich in Schätze, das Vogelhäuschen musste auch geschmückt werden, aus Scheiten entstand ein Turm, der dann wieder zu einem ordentlich geschichteten Vorrat für den Schulofen wurde. Das geschickte Führen der Werkzeuge und fließende Handgriffe bereiteten dem Tätigen und dem Zuschauenden Genuss.

Einen ganzen Kanon von Tugenden konnte Johannes aus einer guten Arbeit ableiten. Er bemerkte, dass echte Arbeit zu echtem Spiel anregte. Oft ging beides Hand in Hand. Die Arbeitsfreude der Neumüller förderte die Spielfreude der Kinder und kehrte von dort wieder zu den Arbeitenden zurück. Noch ein Drittes trat in der Schule des Quellenwächters Johannes hinzu – die Arbeit an sich selbst, das Ringen um echte Bilder für die Schulstunden, für die Feste, für das Miteinander. Johannes war da sehr streng mit sich. So selbstverständlich es den Kindern vorkommen musste, so sehr konnten sie spüren, dass Johannes und die Menschen der Neumühle auch innerlich arbeiteten, selbst immer wieder versuchten, gute Menschen zu sein. Die stille Freude am kleinen Gelingen, das Kämpfen um innere Wahrheit regte die Kinder wiederum an, ebenfalls ihr ureigenstes Feld zu beackern.

Johannes hatte einen Tischler gebeten, seine Werkstatt in der Scheune der Neumühle einzurichten. Dort werkte und wirkte er die Tage und Johannes war froh, wenn die Kinder an dessen Arbeit teilhatten. In der Küche bereitete die sanfte Astrid das Mittagessen zu, eine Melodie auf den Lippen. Einige Kinder halfen ihr und schnitten Gemüse, was sie zuvor von Idunn, der Gärtnerin, geholt hatten, die ihre Pflanzen hegte, um die Elemente freudig zu stimmen. Andere deckten den Tisch. Johannes streifte über das Gelände, brachte den Schafen frisches Heu und war zugegen, wenn ein Kind Hilfe brauchte, weil es ein Fundstück hinter dem Schuppen zutage gefördert hatte und dies nun im Baumhaus verbauen wollte. Er brachte Messer, wenn die Kinder Gras zerkleinern wollten, um Streu für die vereisten Wege herzustellen. Er bereitete Lehm und Strohhäksel, wenn sie eine Mauer in der Erdhöhle setzen wollten. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, wenn er sah, wie sie so vertieft waren in ihr fröhliches, kindliches Tun. Er lauschte ihren Geschichten und besah sich ihre Bilder. Er schlichtete Streit und sprach mit ihnen über Gerechtigkeit. Er schrieb die Ereignisse des Tages in sein Tagebuch und hielt fest, was geschehen war, den Blick zurückgewandt, anstatt ein zu festes Bild vor Augen. Das waren seine Schätze, die mit jedem Jahr wuchsen. Das waren die Hinterlassenschaften seiner Forschung.

Nur ein Bild trugen die Neumüller in der Seele, das ihnen Halt gab: Sie wollten den Rosenkeim der Freiheit in den Kindern pflegen, ohne sie jedoch zu überfordern, ohne dass Haltlosigkeit entstand. Man war hier dankbar auch für schwierige Situationen, weil man wusste: Je einfacher das Leben ist, desto weniger bringt es mit sich. Wenn für alle Kinder alles gleich galt, hatte man es zwar bequem, aber eben nicht lebendig. Manchmal überließen die Neumüller deshalb auch die Dinge einfach sich selbst. Manchmal mutete Johannes den Kindern bewusst ungleiche Behandlungen zu. Sie sollten erleben, dass nicht das Allgemeine, sondern das Besondere zählt. Im Sommer schliefen sie öfter zu Mittag im Heu und genossen den Duft. Im Winter war es der Dach­boden, wo die Kinder unter selbst gebauten Deckenhöhlen und Zelten ruhen konnten, während Astrid ihnen eine Geschichte erzählte. Danach gingen sie nach Hause.

Johannes blieb und ließ nachklingen, was am Tage geschehen war. Er sann gemeinsam mit seinem Helfer über den einen oder anderen Schüler nach. Man sprach über die Schule und das Lernen, über Fehler und die Regungen des Herzens. Man sprach über das Gebrause der Welt und der Zeit, die sich in ein großes Experimentierlabor verwandelt hatten. Wenn die Kinder sich in dieser Welt zurecht finden sollten, brauchte die Schule ebenfalls einen solchen Zug. Auch wenn der Ort durch die Stille und Abgeschiedenheit wie von einem Schutzmantel umgeben war – nur selten kam ein Wanderer hier vorbei – sah Johannes doch in die Welt hinein. Er nahm wahr, wie anders die Kinder geworden waren, mit welchen Dingen sie konfrontiert wurden, welche anderen Fähigkeiten sie mitbrachten, welche anderen Fertigkeiten sie bräuchten. Er wusste um die Vielschichtigkeit der Welt und der Menschen. Die Einzigartigkeit, die er in jedem seiner Schüler fand, ließ ihn mit ehrfürchtigem, aber auch zuversichtlichem Blick auf sie schauen. Er musste die Abgeschiedenheit seiner Schule wahren, zum Schutze der Kinder und der Erfahrungen, die sie hier machen konnten. Die unsichtbaren Säulen seiner Schule waren das Leben mit der Natur, die Ausstrahlung der ernsthaft tätigen Menschen, das echte menschliche Ringen. Ihnen vertraute Johannes. Und diese wollte er den Kindern zur Stärkung angedeihen lassen.

Jedes Jahr, wenn die Zeit nahte, dass die Kinder ihn verließen, um Erstklässler zu werden – und viele wären gern bei ihm geblieben –, fragte sich Johannes, ob nicht auch hier ein Weitergehen möglich wäre. Wie könnte das aber aussehen? Welche Fragen müssten dann bewegt werden? Wie anders müsste gedacht werden, um an das Wesentliche heranzukommen? Wie anders auf die Kinder, diese zukünftigen Erwachsenen, die als freie Menschen durch die Welt gehen sollen, geschaut werden? Ab und an vergaß Johannes, dass er schon teilnahm an dieser Zukunft, an diesem Keimen. Wenn er sich selbst wieder daran erinnerte, nahm er sein Tagebuch, die Geschichten der Kinder, blätterte darin, hörte das rauschende Lied der Quellen und freute sich auf die Kommenden.