Die Schulküche ist Chefsache

Mathias Maurer

Eine Antwort hoffte er bei seiner nächsten Station zu finden. Ein Kurhotel in Gaschurn im Montafon, wo das Ärzteehepaar Felbermeyer eine Ernährung nach anthropo- sophischen Grundsätzen einführte. Viele der älteren Gäste kannten Rudolf Steiner noch persönlich. »Hier gab es zwar Demeter- und Vollwertkost auf höchstem Niveau, aber es schmeckte nicht. Das muss sich ändern. Denn Genuss und Gesundheit gehören untrennbar zusammen!«, betont Hagen. Mit der Verbindung von Gourmet­küche und Vollwerternährung erkocht er sich als Küchenchef in den folgenden drei Jahren einen »Namen«.

Doch eine neue Herausforderung – nun im sozialen Bereich – ruft. In der Werkstatt »Gottes Segen« in Dortmund übernimmt er 1993 die Küchenleitung des Christophorus Hauses, einer Einrichtung für seelenpflege-bedürftige Menschen. 350 Essen bringt er zusammen mit zehn Betreuten pro Tag auf den Tisch. Nebenbei engagiert sich Hagen in Tschernobyl, wo er in Mutter-Kind-Sanatorien Koch- und Ernährungskurse anbietet, um die Widerstandskräfte der Kinder zu stärken. Oder er gibt Kochkurse in den Jugendstrafanstalten Hameln und Göttingen – ein Modellversuch, den er mit dem bekannten Kriminologen Christian Pfeiffer, der damals Kurgast in Montafon war, durchführt. Das Projekt sorgt für öffentliche Diskussionen, denn Strafe darf nicht schmecken. »Man wollte nicht glauben, dass Kochen und Essen zu Achtsamkeit erziehen und einen sozialen Wert an sich darstellen« – Hagen lacht, als er sich erinnert, wie er mit der Getreidemühle unterm Arm durch die Gefängnistore ging. »Es ist berührend zu sehen, wie junge Macho-Typen Zartgefühl und ästhetischen Sinn entwickeln können, wenn sie Speisen anrichten oder Tische eindecken.« Psychologen werteten das Projekt aus und bestätigten Hagens »Erfolgsrezept«.

Geld verdient er damit nicht, deshalb bekocht Hagen Unternehmerkreise. Auf einem dieser gesellschaftlichen Events lernt er Werner Michael Bahlsen kennen, der von Hagens Kochkünsten begeistert ist. Er soll die Kantinen des Keksfabrikanten auf Vordermann bringen. Hagen entwickelt ein völlig neues Kantinenkonzept mit der Frage: »Wie wird das Essen im Arbeitsleben wieder das, was es zu Hause einmal war – eine Zeit sozialen Reichtums und Wohlfühlens? Der Essenstisch soll ein positives soziales Erlebnis, ein Raum für Gespräche sein. Das gelingt nur, wenn das Essen so einladend wirkt und die Umgebung so gestaltet ist, dass man sich dort gerne aufhält.« Dieses Konzept mit Wohlfühl­garantie kommt bei seinen Gästen bestens an und spricht sich in der Unternehmerszene herum. Das Geschäft boomt.

Hagen gründet die Firma EssensZeit und beschäftigt inzwischen an die 100 Menschen. Das Unternehmen gliedert sich in einen Bewirtschaftungsbereich (essenzeit GmbH), einen Beratungszweig (Agentur für gesundes Leben) und in die EssensZeit-Akademie, in der Kochkurse gegeben und Vorträge gehalten werden, aber auch geforscht wird.

Mittlerweile bekocht und berät Hagen Firmen wie Eon, Daimler und MTU. Waldorfschulen zählen ebenfalls zu seinen Kunden. Die erste grundlegende Zusammenarbeit begann mit der Freien Waldorfschule Sorsum, wo mit dem Küchenneubau auch ein neues Essenskonzept Einzug finden sollte. Jetzt gibt es dort keine Schulküche, sondern ein Schulrestaurant. »Es begeisterte mich, wie engagiert alle Eltern, Lehrer und Schüler an dem Projekt teilnahmen«, berichtet Hagen. Angelika Wiesener, eine engagierte Köchin von EssensZeit, blieb als Küchenchefin gleich ganz dort. Einige Fünft- und Sechsklässler helfen an dieser Schule abwechselnd ab 10 Uhr in der Küche mit und lernen den Weg der Nahrungsmittel vom Schulgarten über die Zubereitung bis zur Essensausgabe kennen. Die Zahl der Essen verdoppelte sich. Seit Frühjahr 2012 ist EssensZeit auch an der Waldorfschule Hannover-Maschsee für die Küche verantwortlich.

Hagens Credo ist es, dem Essen seine Wertigkeit zurückzugeben. Dazu gehören strikte Qualitätskriterien: biologischer oder biologisch-dynamischer Anbau, regionale und saisonale Produkte, keine Tiefkühlkost, keine Convenience-Bestandteile – selbst die Brühe wird jeden Morgen neu angesetzt; ausgewogene Speiseplanung – kein Essen wiederholt sich – und geschmacklicher Genuss. »Jede Substanz, die in der Küche verwendet wird, hat ihr spezifisches Wesen und verlangt eine entsprechende Verarbeitung«, meint Hagen, wozu auch eine ästhetisch ansprechende Präsen­tation, die mehr ist als Deko, gehört, denn das Auge des Gastes isst mit. »Essen ist ein Kulturindikator«, betont Hagen, und von diesem Bewusstsein, scheint ihm, sind auch viele Waldorfschulen noch nicht durchdrungen.

Im Gegenteil: »Die Situation der Schulküchen ist katastrophal, und das spiegelt sich auch in den Finanzen wieder. Dass Essen deshalb geoutsourct wird, ist für Waldorfschulen ein absolutes No go!« Gerade sie hätten sehr viele Möglichkeiten, das Essen und die Schulküche stärker pädagogisch einzubinden. Epochen in Gartenbau, Landwirtschaft und Ernährungslehre reichen da nicht aus. Es brauche ein durchgehendes Lehrplankonzept »Essen&Ernährung« von der ersten bis zur zwölften Klasse. Schließlich sollen die Schüler die Schule als mündige Konsumenten verlassen. Deshalb laufen zur Zeit die Vorbereitungen für eine wissenschaft­liche Studie zur Situation der Schulküchen an Waldorfschulen zusammen mit der Fachhochschule Münster.

»Essen ist nie kostendeckend«, resümiert Hagen. »Wareneinsatz, Personal- und Nebenkosten werden – auch bei genauer Kostenstellenzuordnung – nicht durch die Essens- geldeinnahmen kompensiert.« Es brauche allein schon aus pädagogischer Sicht eine Abfederung durch einen Solidarbeitrag aller Elternhäuser durch den Schulgeldbeitrag, der eine Basisfinanzierung für die Schulküche sichert – unabhängig davon, ob die Kinder dort essen oder nicht.

»Eine Schule muss in Essensfragen in Vorlauf gehen, denn nur ein gutes Essen überzeugt und begeistert Eltern, Lehrer und Schüler«, ist Hagens Erfahrung. Dann ist die Mitarbeit kein Thema mehr. Eltern können mehr als Spüldienst machen, Schüler mehr als Tische abwischen und fegen. Die Köche gehören regelmäßig in die Elternabende und Konferenzen. Es muss informiert und Bewusstsein geschaffen werden. Hagen redet sich in Schwung: »Die Schulküche muss zur Chefsache werden!« Wo fühlt man sich oft am wohlsten zu Hause? – In der Küche. Und das ist in der Schule nicht anders.

Link: www.essenszeit.com