Die Verstorbenen arbeiten weiter. Zum Tod von Heinz Zimmermann

Martin Malcherek

Dieser Mann hat es seiner Nachwelt leicht gemacht, Interessantes, Schönes und Lustiges über ihn zu erzählen. Aus allen seinen Lebens- und Betätigungsfeldern – der Anthroposophischen Gesellschaft, dem Goetheanum in Dornach, der Waldorfschulbewegung, der Pädagogischen und der Jugendsektion, als wissenschaftlicher Mentor oder als (musizierende) Privatperson – fällt mir ein Strauß intensiver Eindrücke ein, der von dem Band »typisch für Heinz« zusammengehalten wird. Bei ihm hatte nahezu alles mit dem Thema Erziehung und Selbsterziehung zu tun. Wenn es ein Beispiel dafür gibt, dass der Vorwurf, Anthroposophie sei eine dogmatisch verkrustete Veranstaltung für kritik- und humorlose Steiner-Fans, widerlegt werden kann, dann durch Heinz Zimmermann. Er war der lebendige Beweis dafür, dass die Annahme, eine gesellschaftliche Bewegung sei an der Basis jung und in den (Funktionärs-)Spitzen verholzt, nicht zutrifft. Von revolutionären Ideen musste man ihn nicht überzeugen – man rannte offene Türen ein. Dazu gehörten Ideen, die Anfang der neunziger Jahre noch absurd klangen, wie zum Beispiel, dass die Vorstandsmitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gewählt werden sollten und ihre Amtszeit nicht durch deren Tod endete. Dazu gehörte ein wissenschaftliches Studium am Goetheanum, der freie Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, die Trennung von Arbeit und Einkommen oder ein Studium ohne beruflich motivierten Abschlusszwang.

Anthroposophie als Bewusstseinszustand

Ich habe Heinz Zimmermann kennengelernt, als er Sektionsleiter und Vorstand am Goetheanum war. Für mich war er der Garant dafür, dass eine intensive, aber wohlwollende Auseinandersetzung mit dem Werk Steiners nicht zwangsläufig in gemütsseelenhafter Bewunderung und Stillstand der kritischen Vernunft enden muss. Das galt für ihn als Vortragsredner auf den großen Jugendtagungen im Goetheanum vor tausend Zuhörern genauso wie in der kleinen Runde wissenschaftlicher Seminare. Ich weiß, dass viele Menschen meines Alters, die der Anthroposophie nahe stehen, das genauso sehen.

Heinz Zimmermann hat den Zugang zu Steiner nie über das bedeutungsschwere Wort – »Michaelsschule«, »Christusimpuls« – gesucht oder vermittelt. Im Zentrum seiner anthroposophischen Arbeit stand ein urdemokratisches Element, nämlich die eigene gedankliche Betätigung jenseits aller Interpretationshoheit Steinerschen Gedankengutes. Ein Gedanke ist real oder nicht, er kann bewegt werden oder er kann es nicht, er taugt, um sich selbst oder eine Wahrnehmung zu erklären, oder er taugt nicht dazu.

Immer wieder war in der Arbeit mit Heinz Zimmermann erlebbar, dass Anthroposophie eine Methode, ein Erkenntnisweg ist und keine Glaubensangelegenheit. Er dozierte nicht über die Anthroposophie, sondern näherte sich ihr immer aus einem aktiven und Bewusstsein schaffenden Denk- und Sprachprozess heraus. Anthroposophie war für ihn ein Bewusstseinszustand, den er bei seinen Zuhörern oder Mitdenkern hervorrufen wollte. Es war ihm eine Freude, wenn jemand einen noch so anfänglichen, aber eigenen denkerischen Zugang zur Anthroposophie erlebte. Trotz Anzug und Krawatte war Heinz Zimmermann jugendlicher als so manch linientreuer Jugendsektionist. Auf der Tanzfläche einer Disco in Bukarest rief er mir einmal zu: »Kann mal jemand ein Foto machen, meine Frau glaubt mir das sonst nicht!«

Auf zuviel Anthroposophie reagierte Zimmermann mit ironischem Spott. Er verstand die Anthroposophie für die jungen Menschen zwischen Pubertät und Einstieg in den Beruf als einen Aufruf zu unangepasstem Verhalten – sowohl innerhalb als auch außerhalb der »Bewegung«. Als das Jugendsektionskollegium einen Flyer für die Dokumenta X druckte und im Goetheanum auslegte, stieß dieser wegen angeblicher Unvereinbarkeit mit anthroposophischen Gestaltungsgrundsätzen auf Unverständnis und wurde von der Info-Auslage entfernt. Heinz Zimmermann quittierte diesen Vorgang nur mit einem Achselzucken. Er wusste, auf was er sich eingelassen hatte, als er in der kritischen Übergangsphase nach Jörgen Smits Tod in einem waghalsigen Experiment ungefähr zwanzig ihm mehr oder weniger unbekannte Jugendliche, darunter Langhaarige und Punks, die kaum die Schule hinter sich hatten, in die kollegiale Leitung der Jugendsektion holte. Auch dies ist ein typisches Charakteristikum: Heinz Zimmermann war bereit, Verantwortung auch dann zu übergeben, wenn der Erfolg unsicher war. Geriet jemand in sein Umfeld, musste er damit rechnen, ins kalte Wasser zu springen – in plötzlich leitender Funktion, als Buchautor oder als Vortragsredner auf der Goetheanum-Bühne. Auch dies eine für die anthroposophische Szene ungewöhnliche Signatur, wenn man sich die Altersstruktur und die Zusammensetzung der Gremien in der Anthroposophischen Gesellschaft oder Waldorfschulbewegung ansieht.

Der Entwicklung verpflichtet

Zimmermann war vom Entwicklungsgedanken überzeugt. Er suchte immer Entwicklungslinien – in der Natur, in der einzelnen Biographie oder Menschheitsgeschichte. Er selbst hat seine aussichtsreiche Universitätskarriere beendet, um an der Waldorfschule in Basel als Lehrer tätig sein zu können. Ein damaliger Student von ihm am Deutschen Seminar in Basel, Wilfried Jaensch, beschrieb in seiner Festtagsrede zum 70. Geburtstag von Heinz Zimmermann, wie dieser Schritt nicht weniger Unverständnis ausgelöst habe, als die Mitteilung »Heinz ist nach Kuba gegangen«. Dabei wären die Motive vermutlich dieselben gewesen. Zimmermann hat seine Arbeit an und in der Waldorfschule immer auch als Teil einer gesellschaftspolitischen Theorie und Praxis angesehen.

Die Waldorfschule war für ihn ein Ort, an dem die Freiheit und Unabhängigkeit vom Staat genauso erkämpft werden muss, wie es im pädagogischen Prozess darum geht, individuell zu Freiheit und Selbstbewusstsein zu befähigen. Auf der anderen Seite verstand er die Schule – insbesondere die Konferenz der Lehrer – als einen Ort, an dem verbindliche soziale Begegnungen stattfinden und an dem man sich existenziell zur Wahrnehmung einer gemeinsamen Aufgabe zusammenschließt. Auf dieser Grundlage vermittelte Zimmermann auch seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen, in denen sich individualistischer Anarchismus und sozialistisch-brüderliche Verteilung von Ressourcen nicht etwa ausschließen, sondern – hier bewährte sich sein an Hegel geschultes Denken! – gegenseitig zur Geltung verhelfen. Es war ein besonderes Kennzeichen, dass er dies nicht im Rückzug auf eine geschützte »Waldorfnische« anwandte, sondern als aktiver Beobachter des Zeitgeschehens immer wieder Anknüpfungspunkte in den aktuellen Entwicklungen von Kunst bis Politik gesucht hat. Auch sein Engagement für ein freies Studium, frei von curricularen Zwängen und entmündigendem Abschlussstreben kann so gesehen werden: Als Versuch, ein Feld sozialer Erfahrung in der gemeinsamen geistigen Auseinandersetzung zu schaffen.

Vorbildlich bescheiden

Zur Gedenkfeier war der große Saal im Goetheanum mit tausend Menschen voll besetzt – ein Bild dafür, welch enorme Anerkennung Heinz Zimmermann in der anthroposophischen und Waldorfwelt erfuhr. Er war ein ausgezeichneter Redner, glasklarer Denker und virtuoser Pianist und man fragt sich, wie er es geschafft hat, ohne Starallüren und in seiner bekannten Art bescheiden zu bleiben. Ich vermute, dass Heinz Zimmermann wie kaum ein anderer seine eigenen Schwächen nicht nur kannte, sondern konsequent analysierte und zu verbessern versuchte. Der anthroposophische Übungsweg war für ihn kein leichter Weg in die Glückseligkeit, sondern ein Arbeitsinstrument wie für andere Menschen ein Spaten.

Sein Arbeitsbegriff war nicht protestantisch-schlechtgelaunte Pflichterfüllung, sondern hatte viel mit Spiel zu tun. Spaß und Humor waren in der Arbeit genauso selbstverständlich wie das Genießen. Heinz Zimmermann war überzeugt, dass die Arbeit mit dem Tod nicht aufhört, sondern nur eine andere wird. Ein Gespräch beendete er mit der Frage: »Gelingt es, die Verstorbenen in die Arbeit mit einzubeziehen?« – Jetzt ist die Frage bei uns.