Ein Grandseigneur der Waldorfschulbewegung

Hartwig Schiller

Als er seinen siebzigsten Geburtstag feierte, da geschah das im Kreis eines weiten Lebens mit zwei Ehefrauen, Kindern und Enkelkindern. Neben der Familie nahmen seine Freunde vom Bund der Freien Waldorfschulen teil, ehemalige Kollegen von der Freien Waldorfschule am Kräherwald, Angehörige seiner erweiterten Familie Geier aus Freiburg, wo er während seiner Studienzeit Anschluss gefunden hatte, und Freunde aus der ganzen Welt, um die er sich insbesondere seit 1989 verdient gemacht hatte. In der frühen Freundschaft mit Svetlana Geier kündigte sich die Bedeutung der osteuropäischen Welt an, die später ein so großes Aufgabenfeld für ihn werden sollte.

Kultus und Ritual: »The Rocky Horror Picture Show«

Ich lernte ihn in den siebziger Jahren bei den Delegiertentagungen des Bundes der Freien Waldorfschulen kennen. Günter Altehages elegante Erscheinung, sein warmer Blick und die markant zurückgestrichenen Haare hoben ihn aus seiner Umgebung heraus. Als die Tagung einmal am Kräherwald stattfand, benötigten wir Wandsbeker Junglehrer eine Mitfahrgelegenheit von der Schule zurück zum Bahnhof. Wir sahen uns um und entdeckten eine schwere Limousine, in deren Fond Günter Altehage saß.

Auf unsere höfliche, aber dennoch etwas vorwitzige Bitte um Mitnahme antwortete eine freundliche Stimme: »Dann steigen sie mal ein!« Nach kurzer Vorstellung wandte sich das Gespräch pädagogischen Fragen zu. Günter Altehage begann vom Religionsunterricht in der Oberstufe zu erzählen. Zur Unterrichtsvorbereitung war er kurz zuvor im Kino gewesen und hatte sich den Film »The Rocky Horror Picture Show« angesehen. Ein Film, der damals Kultstatus besaß und in dem als permanentes Ritual Unmengen an Reis von den Zuschauern in den Saal geworfen wurden. Er nahm diesen Film zum Anlass, um mit den Schülern über Kultus und Ritual zu sprechen. Damit hatte er unsere sofortige Sympathie gewonnen. Dieser Mann entsprach überhaupt nicht dem engmaschigen, vermieften Bild eines Iristüchlein entfaltenden Anthro-Muckers. Auch das Ambiente der Begegnung imponierte uns. Da hatte ein begütertes Elternteil diesem Jack Nicholson der Waldorfschulbewegung Limousine und Fahrer zur Verfügung gestellt. Das hatte Stil. Es erinnerte an die Gründerzeiten mit Emil Molt – und das Leben in Stuttgart schien nicht schlecht zu sein.

Die Zeit der Annäherung währte nicht sehr lang. Als es um die Gründung eines Lehrerseminars in Kiel heftigen Streit mit den Hamburger Schulen gab, trat Günter Altehage als Verhandlungsführer des Bundes auf. Er war inzwischen dessen Geschäftsführer geworden und genoss augenblicklich das Vertrauen eines primus inter pares. Wir fanden in ihm nicht nur einen Vertrauten, sondern zugleich einen Freund, der seine Sympathie still und diskret zu äußern verstand. Mit großem Geschick steuerte er das Bundesschiff damals durch die Untiefen menschlicher Schwächen wie Ehrgeiz, Macht und Stolz hindurch, die auch im Umfeld hoher Ideale nicht fremd sind. Nach kurzer Zeit wurde ich Kollege im Bundesvorstand und kam zum inneren Kreis in Stuttgart. Es folgten viele Jahre vertrauensvoller und freundschaftlicher Zusammenarbeit, – ein erfüllter, schöner Lebensabschnitt.

Humanes Schulwesen in sozialistischer Kälte

Unvergessen ist die Gründung der IAO, der Internationalen Assoziation für Osteuropa, und das spontane Vertrauen, das Günter Altehage bei den vielen profilierten und heterogenen Mitwirkenden fand. Er fungierte als ein Minister zum Aufbau eines humanen Schulwesens in der sozialistischen Kältewüste. Seminare, Tagungen, Beratungen und Schulbegleitungen organisierte er im internationalen Maßstab. Menschlicher Einsatz und Geldbeschaffung gingen Hand in Hand. Einige Tage lang hatten wir einen gemeinsamen Einsatz in Tbilissi. Es ging um Lehrerbildung für die erste Waldorfschule dort und um Verhandlungen mit Beamten des georgischen Bildungswesens.

Ich sollte ihn ablösen und fand einen kranken Günter Altehage vor, der sich der fürsorglichen Pflege einiger besorgter georgischer Freundinnen erfreute. Es war die Stunde einer erweiterten Heilkunst, frischer Erdbeeren und Mengen gehaltvollen Joghurts aus den Bergen. Mein Gott, – was waren das für herrliche Zeiten!

Die geistigen Ziele immer im Blick

In den Delegiertenkonferenzen konnte man nun einen sachlich, mit herbem Charme leitenden Kollegen erleben, der die Lehrerschaft mit milder Strenge zur Konzentration aufforderte. Es gab so viele Aufgaben, es gab Verantwortung und er hatte viel gesehen. Die Schulbewegung brachte ihm liebevollen Respekt entgegen. Er verkörperte eine unprätentiöse Sachlichkeit, der uneingeschränktes Vertrauen entgegenkam. Neben dem freien Religionsunterricht war ihm die spirituelle Durchdringung des Mathematikunterrichtes ein besonderes Anliegen. Die Tätigkeit eines Geschäftsführers konnte er deshalb auf so ideale Weise verkörpern, weil er die geistigen Ziele der Waldorfpädagogik aus praktischer Anschauung kannte und sie mit einer warmen Sachdienlichkeit im organisatorischen Bereich verknüpfte. Drei Bücher kennzeichnen das thematische Umfeld Günter Altehages: »Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule: Ein Kompendium«, »Im Vorfeld des Dialogs – Erwiderung der Waldorfschulen auf kritische Darstellungen von kirchlicher Seite über Anthroposophie und Waldorfpädagogik« und »Religion, Weltanschauung, Waldorfschule: Von der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses«. Dabei fungierte er oft als Mitherausgeber und Mitautor.

Ein liebenswürdiges Kapitel sollte noch folgen. Es handelt vom Vater, der in fortgeschrittenem Alter mit aufgeschnalltem Rucksack und Kind an der Hand den Schulweg seines Jüngsten begleitete. Jahr für Jahr konnte man ihn so erleben. Behutsamkeit und zarte Aufmerksamkeit gingen von ihm aus, Jugendlichkeit und Alter mischten sich. Regelmäßig führte ihn sein Weg dann auch ins Lehrerseminar, wo er sich einige Zeit in die ausliegenden Zeitungen vertiefte, um dann wiederum seinen Vaterpflichten nachzukommen. Er liebte das Leben im Umkreis junger Menschen. Begegnete er einem der alten Weggefährten durchzog ihn wahrnehmbar Freude. Erinnerungen wurden wach.

Zum Autor: Hartwig Schiller ist Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland