Ein wahrer Lehrer. Begegnungen mit Wolfgang Wünsch

Gerhard Beilharz

Auffälligstes Merkmal: Obwohl seit 25 Jahren im Ruhestand, ist der innerlich und äußerlich verblüffend jung Gebliebene nach wie vor in der Aus- und Fortbildung von Waldorflehrern gefragt und hat bis in die jüngste Vergangenheit immer wieder vertretungsweise Musik in verschiedenen Klassenstufen unterrichtet.

Dnepropetrovsk, Sommer 2002

Ich war Wolfgang Wünsch schon bei verschiedenen Musiklehrertagungen begegnet und hatte ihn als profilierten Vortragsredner und Kursgeber erlebt. Nun lernten wir uns in Dnepropetrovsk näher kennen, wo wir beide über einige Jahre hinweg im berufsbegleitenden »Seminar für Waldorfpädagogik in der Ukraine« für die Ausbildung künftiger Musiklehrer verantwortlich waren. Obwohl er damals schon auf die 80 zuging, waren seine Kurse immer ganz »jung«. Nie gab es fertige Rezepte. In der Arbeit an den menschenkundlichen und musikalischen Phänomenen ließ er die Studierenden ihre Entdeckungen machen, immer bereit, alles von Grund auf infrage zu stellen – sein Lebensthema, wie mir im Laufe der Zeit klar wurde!

Rückblende 1

Wolfgang Wünsch wird 1926 in Halle geboren, zieht als 15-jähriger Flakhelfer in den Krieg, macht eine Offiziersausbildung, wird im Frühjahr 1945 zur Frontbewährung nach Osten geschickt und gerät in russische Gefangenschaft, aus der er erst 1949 zurückkehrt.

Diese Jahre in Astrachan, auf die er ohne die geringste Bitterkeit zurückschaut, prägen ihn zutiefst. Er erfährt für ihn selbst unschätzbare Lektionen über das soziale Miteinander, erlebt eine starke Verbundenheit mit der russischen Seele und erlernt die russische Sprache, die er in einer viel späteren Lebensphase wieder brauchen wird. Er holt, mit 23, sein Abitur nach.

Den Wunsch, Naturwissenschaften zu studieren, kann er zunächst nicht verwirklichen. Er kommt nach Westberlin, wo er, trotz mangelnder Vorkenntnisse, an der Kirchenmusikschule in Berlin Spandau aufgenommen wird und dort bis zum Abschluss studieren kann. Anschließend studiert er in Freiburg Physik, Mathematik und Geographie. Inzwischen hat er Anthroposophie und Waldorfpädagogik kennengelernt und kommt 1963 als Hospitant an die Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart.

Ein Lehrer erkrankt und schon nach vierzehn Tagen führt Wünsch eine 8. Klasse. Nach einem Schuljahr folgt er dem Ruf nach Marburg, wo er an der Waldorfschule Musik und Naturwissenschaften unterrichtet. 1970 wird er Mitbegründer der Bonner Waldorfschule und unterrichtet dort bis 1992 Musik in allen Klassenstufen.

Bremen, 18. Juni 2016

Fast 100 Gäste haben sich eingefunden. Der Jubilar scheint im letzten halben Jahr noch einmal jünger geworden zu sein! Er hält eine geschliffene Rede und lässt die wichtigsten Stationen aus 90 Lebensjahren Revue passieren. Er spricht mit großer Präsenz, eindringlich, dicht, zugleich unterhaltsam und mit lustigen Einsprengseln – ganz so, wie man es sich von einem guten Lehrer wünscht!

Ich komme mit vielen Menschen ins Gespräch, die ihn in seinen Marburger und Bonner Unterrichtsjahren erlebt haben, als Schüler, Schuleltern oder Kollegen. Das Bild eines begabten und geschätzten Lehrers gewinnt immer deutlichere Konturen: »Disziplinprobleme gab es bei ihm nie!« – »Für uns Schüler war er der geheime Direktor! Wenn es einen Konflikt zu lösen gab, gingen wir zu ihm.« – »Bei den Improvisationsübungen war ich ängstlich, aber er hat nie kritisiert. Das hat mein Selbstvertrauen enorm gestärkt.« – »Von ihm ging eine besondere moralische Kraft aus, eine tiefe Wahrhaftigkeit.«

Rückblende 2

In den Bonner Jahren entwickelt Wolfgang Wünsch einen stringenten Aufbau des Musikunterrichts durch sämtliche Klassenstufen und zugleich seinen eigenen musikpädagogischen Stil. Dazu gehören zum einen die den Kindern und Jugendlichen »auf den Leib« geschriebenen Kinderlieder, Liedsätze und Chorstücke von hoher Qualität.

Daneben entfaltet er einen improvisatorischen Übweg, der die Musik für die Schüler tätig und lebendig erfahrbar macht und von den elementaren Phänomenen (Klasse 4) bis zu einem umfassenden Form- und Stilverständnis (Oberstufe) führt. 1995 entsteht aus diesen Erfahrungen sein nach wie vor gefragtes und inzwischen in sieben Sprachen übersetztes Buch »Menschenbildung durch Musik«.

Bremen-Lüssum, 26. Juni 2016

Ich bin zu Gast bei Wolfgang Wünsch und seiner Frau Barbara. Ich erfahre viel über seine europaweit betriebene umfangreiche Kurs- und Seminararbeit. Neben Holland, Skandinavien und den baltischen Ländern zieht es ihn vor allem immer wieder nach Russland.

Dem Moskauer Waldorflehrerseminar bleibt er seit seiner Gründung für 20 Jahre als Dozent und Freund treu verbunden. Aktuell ist er am Lehrerseminar in Jena regelmäßig als Gastdozent tätig. Noch immer spricht in den Kursen der Musiker. Aber sein Blickwinkel hat sich längst geweitet. »Verstehen wir die Botschaft der Kinder?«

Das ist jetzt eine der Grundfragen, die er mit den jungen Lehrern immer wieder bewegt und zu der er sich in der ihm eigenen knappen, skizzenhaften Weise in einem gleichnamigen schmalen Büchlein geäußert hat. »Dass wir zu echten Fragen kommen mit den Kindern«, fernab vom konventionellen schulischen Abfragebetrieb, »das ist wichtiger, als immer Antworten parat zu haben!« Künftige Lehrer sollten im ersten Jahr ihrer Ausbildung vor allem beobachten lernen, um die »Fragwürdigkeit« der Welt genügend tief zu erfahren. Ich hole unser Gespräch noch einmal ins Fach Musik zurück: »Was wünschst Du den künftigen Musiklehrern, die jetzt in Ausbildung sind?« Die Antwort: »Ein gründliches und engagiertes Suchen nach dem Elementaren in der Musik, bis hin zu ihrem Ursprung.«

Am Abend kramen wir noch in alten Fotoalben und Schriftstücken. Da kommt eine Bonner Abi-Zeitung von 1991 zum Vorschein, in der – die Methode ist bis heute noch gängig – die einzelnen Lehrer steckbriefartig charakterisiert werden. Eine gekonnt gezeichnete Karikatur zeigt Wolfgang Wünsch in der Pose des Klaviervirtuosen, darunter sind seine »Erkennungsmerkmale« aufgelistet. Der letzte Eintrag: »Ein wahrer Lehrer!« ‹›

Zum Autor: Gerhard Beilharz arbeitet als Musikdozent am Rudolf-Steiner-Seminar Bad Boll und im Rahmen der »Freien Musik Schule. Kunst – Pädagogik – Therapie«. Internationale Kurstätigkeit; Veröffentlichungen zu musikpädagogischen Themen und zu neu entwickelten Instrumenten.

Weitere Literatur von Wolfgang Wünsch in: edition zwischentöne (edition-zwischentoene.de) und edition waldorf (waldorfbuch.de). Ferner vier Opern für eine 6. Klasse, hrsg. von der FWS Lübeck