Ich bin Teil des Ganzen

Erziehungskunst | Was hat aus Ihrer Sicht das »Corona-Jahr« mit der Kunst im weiten Sinne und der Erziehungskunst im engeren Sinne gemacht?

Matthias Schenk | Mein Lebensmotiv – »aus dem Nichts schöpfen« – ist gerade richtig aktuell, aber mit einer dramatischen Wendung. Jetzt ist die Situation so, dass ich als Künstler nicht mehr irgendwo hinfahre und Kurse gebe, sondern jetzt bin ich selber Teil der Situation, in der man nicht mehr weiter weiß. Das ist für mich eine sehr künstlerische Lebenssituation. Und gerade auf dem Feld der Kunst, wenn nichts mehr weitergeht, entsteht die Frage: Wo beteiligen sich Künstler beitragstiftend an einer heilsamen Arbeit an diesem Planeten? Wo ist die Kunst eine unabdingbare »Beteiligte«? Sie taucht ja gar nicht mehr auf als systemrelevanter Faktor. In der jetzigen Situation ist die Chance vorhanden, dass die Kunst erwacht und dann zwei Griffe wachsen: Einer von mir dorthin und einer vom Kunstbegriff zu mir. Dann findet auch die »Kultur« zurück in ihre Heimat. Das betrifft auch die Schulen. Immerhin wird jetzt klar, dass sie den Eltern den Rücken freihalten, dass das ihre Hauptaufgabe ist. Dann kommt als zweites ans Tageslicht: Die Kinder fehlen sich gegenseitig. Die Bildungsarbeit wäre ja dann das dritte und müsste auch ganz neu erfunden werden, weil sie jetzt, so wie die Kunst, nicht systemrelevant zu sein scheint. Das würde aber auch bedeuten, Familie neu zu denken. Aber das ist ein »vermintes Feld« …

EK | Sie sind Großvater und Künstler. Gibt es da Gemeinsamkeiten?

MS | Es ist eigentlich genau dasselbe. Ich habe vielleicht das Wort »Erziehungskunst« erstmals richtig verstanden. Denn die Begegnung mit meiner kleinen Enkeltochter – ich habe ja eine Schauspiel- und Zirkusschule besucht, und dort gelernt, die Bühne ohne Vorbereitung zu be­treten –, also die Begegnung mit ihr ist dafür eine großartige Ausbildung. Jedes Mal, wenn ich etwas wiederholen will, eine Absicht habe, etwas vermeiden oder korrigieren will, wird das sofort von der Enkeltochter durchschaut. Ich kann das so richtig mit Humor nehmen – normalerweise würde ich mir so etwas nicht gefallen lassen – und sie gibt mir zu verstehen: »Mach eine kleine Pause und atme durch.« Das sind dann kleine Glücksmomente im Leben, wenn ich nicht festhalte an meinem Programm. Unsere Lehrerin auf der Schauspielschule sagte immer: »Une leçon préparée est une leçon ratée!« (Eine vorbereitete Lektion ist eine misslungene Lektion). Dann haben wir Kasperlefiguren in einer alten Kiste entdeckt und gemeinsame Geschichten entwickelt. Wir können damit schwierige Dinge besprechen und die Figuren sind mittlerweile so gut, dass sie attraktiver sind als die Technik, die bei uns rumliegt. Die Kraft der Figuren ist so stark, dass äußere Dinge ihre Macht verlieren und die Figuren Dinge sagen können, die der Opa nicht sagen dürfte. Eine letzte Entdeckung zur Erziehungskunst ist: Meine Enkelin führt mich an Orte, an die ich selber nie hingegangen wäre. Ich gehe auf Spielplätze, wir gehen in den Pflanzenmarkt und schauen uns Schildkröten an. Dabei erlebe ich diese Orte aus dem Blickwinkel des Kindes und bin beschämt, wie wenig ich das hier im Schloss Freudenberg gemacht habe.

EK | Was wollen kleine Kinder von der Kunst?

MS | Sie erwarten bei ihrer Ankunft – nach ihrem großen Kunstwerk –, sich zu zeigen, nichts anderes. Wenn sie nicht empfinden können, dass sie empfangen werden mit einer künstlerischen Haltung, dann gehen sie zu Grunde. Denn die Kunst ist ja das Arbeitsfeld, das sich immer mindestens zu einem Teil mit dem »Zukünftigen« – was ja aber auch das »Herkünftige« des Kindes ist – verbindet. Dahin baut die Kunst Zugänge, Kanäle und Brücken.
Deshalb sind Kinder bereit für künstlerische Aktionen und Gesten. Wenn ich sage, die Kinder »brauchen Kunst«, ist es falsch, sie erwarten das. Sie sind es, die uns künstlerisch impulsieren. Sie bestätigen mich in meiner Arbeit und erinnern mich an die Impulse, die ich zum Beispiel in Bezug auf die Gestaltung von Klassenräumen hatte. Diese wurden aber überformt durch Fragen der Lichtgestaltung, der Formen und Materialität und im Laufe der Zeit »zu Tode designt«.

EK | Was suchen Jugendliche in der Kunst?

MS | Der Jugendliche sucht eigentlich nichts in der Kunst. Er hat ja schon gelernt, dass Kunst ein Randfach ist, eine Randbeschäftigung, wo man im Kontext der MINT-Fächer sagt: »Das kann man auch noch machen« – außer es besteht ein Schauspiel- oder Musikkarriere-Wunsch. Sie ist so sortiert wie ein Wildpark, den man mal besuchen kann.

Beim Jugendlichen kann die Kunst, oder könnten – speziell die Erziehungskünstler und Erziehungskünstlerinnen – diejenigen sein, wo sie »wirklich gemeint sind«, dass »sie mich wirklich als Mensch sehen will« und dass »sie sich wirklich mit mir beschäftigt«. Dieses Erlebnis ist sehr zurückgegangen. Der Schüler ist heute gewissermaßen Kunde geworden und muss noch dazu bestimmten Erwartungszielen – Potenzialentfaltung, Portfolio, Tools, Zertifikate, Abschlüsse – gerecht werden. Im Schloss Freudenberg kamen oft Klassen oder Gruppen vorbei und es war deutlich, die Lehrer, die Eltern oder die Erzieher haben die Reise gebucht, als Epochenabschluss oder als Bildungsveranstaltung. Wenn wir dann unser Programm abwickelten, war ihre Reaktion: »Gut, das überleben wir auch noch!« Wenn wir sie nach »ihren Fragen« gefragt haben, kam die Antwort: »Wenn ihr keine Fragen habt, lasst uns in Ruhe.« Da haben wir dann ein neues Format entwickelt, das aber auf Ablehnung der Lehrer stieß, weil die ein bestimmtes Programm gebucht haben. Das Format begann mit der Frage: »Uns wurde eine Stunde geschenkt, was können wir in der Zeit machen?« Schweigen! Das muss man erstmal aushalten. Mit den Vorschlägen der Jugendlichen – zum Beispiel »Essen« – haben wir dann eine Aktion – zum Beispiel Feuer machen, Holz hacken – begonnen. Ein solches Vorgehen weckt das Interesse. Der Jugendliche erlebt, dass er für das Auffinden von Lösungen wirklich gefragt ist. Erst auf dieser Grundlage wird eine echte Auseinandersetzung mit der Ordnung und dem Sinn der Dinge möglich. Für die Gestaltung eines solchen Prozesses ist mein bedingungsloses Interesse für den Einzelnen notwendig. Sonst passiert nichts. Es gibt sonst keinen Funken, der überspringt.

EK | Warum braucht es so etwas wie das »Erfahrungsfeld der Sinne«?

MS | Bei unserer Ankunft, also Geburt, hatten wir eine Sinnesfülle, wie wir sie nie wieder erreichen werden. Sonst wären wir nicht gesund angekommen. Dann beginnt der Abbau dieser Begabung, also Gabe, aber immerhin haben wir noch eine minimale Sinnesbegabung, eine Grundausstattung – z.B. die Unterscheidung von »schwarz« und »weiß« – sonst könnten wir nicht lesen. Das ist Grundlage für unser gesamtes Leben. Alles, was nach der Wahrnehmung kommt, ist, dass ich einen Sinnes-Eindruck habe und meine erste Reaktion dazu ist: »Das ist Spitze oder das ist ein Scheiß«. Der Gegenstand, die Musik, das Kleid, das Auto, alles, was wir wahrnehmen, beurteilen wir sofort. Und dann verwechsle ich die Welt mit meiner Bearbeitung des Eindrucks.

Entscheidend ist, wie wir über das Wahrgenommene denken, wie wir urteilen, wie wir uns eine Meinung bilden, wie Anti- und Sympathie aufsteigen, bis hin zu Aggression und emotionaler Vereinnahmung. Sinnesarbeit ist deshalb eminent wichtig. Mit dieser Arbeit betreten wir »Neuland« und es gibt keine Tools dazu. Wir müssen aber dazu aufwachen. In der Corona-Zeit kann man erleben, wie ein Begriff fällt und die »Mauern« rechts und links hoch oder runter gehen. Wie können wir dem standhalten, ohne in Rechtfertigung, Entschuldigung, oder Begründung zu verfallen, sondern aushalten, dass da ein Begriff ist, der gesagt wird und das einfache Momentum aushalten. Dieser Prozess entspricht einer inneren Sinnesempfindung, mit der wir arbeiten müssen und die Arbeit daran ist eine künstlerische Arbeit. Die Sinnesarbeit führt so zur künstlerischen Arbeit.

EK | Wenn Sie heute eine neue Schule bauen würden, wie sähe sie aus?

MS | Ich würde dafür sorgen, dass jede Schule eine hervorragende Küche mit hervorragenden Köchinnen und Köchen als Zentrum hat. Dass die Schüler wochenweise in der Küche arbeiten – natürlich mit Service, Spülen, Fegen usw. Das müsste das schönste Gebäude sein, mit großem Festsaal und mit Galerien, wo man sich zurückziehen, alleine verweilen kann, aber auch eine Großveranstaltung mit vielen Eltern machen kann. Wichtig wäre mir auch eine besondere Gestaltung der Toiletten, die an Ställe mit Schweinen und Schafen anzugliedern wären und damit auf das Ende von Verdauungsprozessen von Partnerwesen treffen, die das auch so machen. Das wäre das Zentrum der Schule. Weiter würde ich im Umkreis von einem Kilometer Partnerbetriebe suchen: Gärtnereien, Krankenhäuser, Altenheime, Gastronomen, Werkstätten, Bauernhöfe, Haftanstalten, Fabriken, Baustellen, Künstler, Kinos usw. Das wären Satelliten-Orte der Schulen, an denen die Kinder Arbeits- und Lebensvorgänge integriert wahrnehmen und mit anpacken können. Klassenräume gäbe es in der Schule nicht, aber die Erfahrungen, die sie machen, müssten in dem Schulkörper verdaut werden – wo die Wunden gepflegt und die Freuden genossen werden. Das müsste man auch entsprechend vorbereiten, so dass die Gemeinde merkt: »Wir haben eine Schule« – nicht nur, wenn die Schüler den Supermarkt stürmen, sondern dann, wenn die Schüler von Schulraum zu Schulraum wandern.

EK | Was brauchen die Lehrer für die Zukunft der ihnen anvertrauten Kinder?

MS | Die Beantwortung der Frage ist schon Teil des Problems, denn Lehrer wissen es genau. Vielleicht ist dieses Wissen überlagert, überformt, vielleicht überbaut oder überschüttet, aber sie »wissen es« genau! Die einzige »Bräuchlichkeit« – was sie brauchen – wäre, ihnen einen Raum zu bieten und den Raum zu schützen, dass sie alles aussprechen können, ohne Angst, bewertet, verhaftet oder in gewisse Schubladen gesteckt zu werden. Dass ihnen nur zugehört wird, ohne Diskussion, ohne Körperreaktion – das muss man üben. Damit eine Lehrerkonferenz zu einer Lehrer-Konferenz wird. Nur zuhören und auf die Erfahrung bauen. Die Experten für eine zukunftsfähige Bildung sind schon an Waldorfschulen. Ich würde das Wissen der weisen Frauen und Männer an den Schulen – insbesondere der Frauen über 50 – anzapfen und zuhören, was sie zu sagen haben …

EK | Wie sähe eine Lehrerbildung aus, die Sie leiten würden?

MS | Im ersten Jahr würde ich nicht an Unterricht und Fächern arbeiten, sondern an der Haltung. Wie gehe ich? Wie spreche ich? Wie wirke ich? Und dann die große Improvisationskunst: Wie nehme ich Themen, Wörter, Schatten, Bilder auf? Ich würde an der Freiheit arbeiten, daran, dass die größte Universität mein Leib, meine Körperlichkeit ist – durch Experimente und Übungen. Denn wenn ich das Wissen meines Leibes vernachlässige, hat das Folgen für die Schüler. Es geht darum, das Lehr-Instrument zu stimmen. So könnte ich mir vorstellen, dass der erste Unterricht z.B. ohne Stühle auskommt und ich wieder lernen muss, auf und mit dem Boden zu arbeiten.

EK | Was geben Sie den Waldorfschulen für die nächsten 100 Jahre mit auf dem Weg?

MS | Dass sie sich vornehmen, jeden Tag was anderes zu machen und wenn wir in hundert Jahren wieder zusammen kommen, sie aus ihren Tagebüchern berichten, was sie täglich neu gemacht haben.

Das Interview führte Matthias Niedermann