Im Farbenmeer der Pflanzen

Gilda Bartel

Die sechzehn Kinder der dritten Klasse stürmen in den Klassenraum. Dort ist heute nichts wie immer. Vor der Tafel hat Frau Frenzel eine kleine Hexenküche installiert. Aber noch glühen die Herdplatten des Campingkochers nicht. Sie wollen heute Pflanzenfarben herstellen und damit ein Michaelsbild malen. Die Kinder erkennen die Holunderbeeren. Die mittlerweile getrocknete Färberkamille, die sie vor den Sommerferien geerntet haben, auch. Ein Jahr zuvor wurde sie von der jetzigen 6. Klasse gesät. Die Krappwurzel, die ein intensives Rot ergibt, haben die Kinder letzte Woche per Hand gemahlen, in alten Kaffeemühlen. Frau Frenzel erzählt ihnen, was die Pflanzen mögen: »Die Krappwurzel mag es warm, weshalb sie viel in der Türkei angebaut wird. Das ist das Land, aus dem Kayas Vater stammt. Dort kommen ja auch die schönen handgewebten Teppiche her. Und das rote Garn in den Teppichen wurde mit der Krappwurzel gefärbt.«

Kunst und Naturschutz schließen sich nicht aus

Susanne Frenzel ist von Haus aus Malerin. Sie hat schon immer mit Farben zu tun gehabt. Nach ihrer Waldorflehrerausbildung war sie an der Schule als Umweltpädagogin tätig. Diese zwei Bereiche, das Künstlerische und der Naturschutz, sind ihr Herzensanliegen. Nach langem Suchen hat sie in der Pflanzenfärberei endlich wieder ihre Liebe zu den Farben entfalten können. Dabei färbt sie nicht nur Garne und Wolle, sondern denkt über viele weitere Anwendungen der Pflanzenfarben nach: Malen, Zeichnen, Gestalten, Wände lasieren, Tinte, Kreide, Aquarellfarben oder Pigmente herstellen. Sie steht im Austausch mit Institutionen und Menschen, die sich der therapeutischen und praktischen Arbeit mit Pflanzenfarben widmen. »Das Wissen um die Pflanzenfarben sollte kein Geheimnis sein«, findet Frenzel. »Der Austausch mit anderen ist wichtig und eine Chance – so kommen wir den Geheimnissen der Pflanzen auf die Spur.« Immer wieder sei Wissen vergangener Epochen verloren gegangen, weil die Menschen es für sich behalten haben, anstatt es weiterzugeben.

Unberechenbares ist schön

Susanne Frenzel mag es, und die Kinder übrigens auch, dass immer ein Rest Unberechenbarkeit in den Pflanzenfarben steckt. Man weiß nie im voraus, wie das Gelb der Birke oder das Lindgrün der Iris am Ende erscheinen werden. Die Kinder schauen sich die Färbeergebnisse von letzter Woche in der Pause an. Das Orange der Annoattosamen leuchtet auf der Baumwolle, aus der die Kinder im Handarbeitsunterricht Stiftemäppchen häkeln werden. »Die Farbe ist super geworden, denn normalerweise ist die Baumwollfärbung schwieriger als die Schurwollfärbung«, sagt Frau Frenzel. »Oh, sieht das schön aus«, sagen die Mädchen. Ja, es geht beim Pflanzenfärben nicht nur um das Handwerk, sondern auch um eine ästhetische Erfahrung.

Das Färben ist ein Wandlungsprozess, der viele Sinne anspricht: das Sehen, das Tasten, das Riechen und auch das Schmecken, wenn sich zum Beispiel die ätherischen Öle, die nicht immer wohlriechend sind, aus den Pflanzen lösen und für den Geschmackssinn wahrnehmbar werden. Letzte Woche »duftete« es im ganzen Schulgebäude intensiv nach der gekochten Goldrute.

Tradition und modernes Wissen spielen zusammen

Susanne Frenzel bringt das Wissen in Theorie und Praxis mit. Die Klassenlehrer arbeiten eng mit ihr zusammen. Die Schule bekam von Eltern, die einen Saatzuchtbetrieb haben, ein kleines Feld zur Verfügung gestellt, um dort Ackerbauepochen durchzuführen. Nebenbei wurde noch ein Beet mit Pflanzen angelegt, aus denen Farben gewonnen werden können. Gerade sind die Viertklässler mit ihrer Lehrerin dort, um den Färberwaid zu ernten. Heute Nachmittag will Susanne Frenzel mit ihnen den Waid noch mörsern und zu kleinen Kugeln formen. Dann kann er trocknen. So wurde das früher auch gehandhabt. Und wenn die 4. Klasse im nächsten Frühjahr eine Heimatkunde-Epoche hat und sich mit der traditionellen Waidfärberstadt Erfurt beschäftigt, werden die Waidkugeln wieder hervorgeholt und damit die Wolle blau gefärbt. Susanne Frenzel sieht in der Pflanzenfärberei ein enormes pädagogisches Potential.

Die Oberstufenschüler könnten im Chemieunterricht damit arbeiten, denn einige Pflanzenfarben, wie die des Holunders, sind Indikatorfarben für pH-Werte. Auch die Farbstoffgewinnung wäre spannend. Was passiert beim »blauen Wunder« des Waidfärbens chemisch? Die Schüler könnten alte Färber-Rezepte mit heutigem chemischen Wissen entschlüsseln. So würden die Schüler Prozesse weiter führen, die in der ersten Klasse als Malen mit Pflanzensaft begannen und sich in der typischen Handwerkerepoche der dritten Klasse fortsetzten.

»Die Verbindung von Natur, Umweltpädagogik und dem Künstlerischen, wie es in der Pflanzenfarbenwerkstatt geschieht, ermöglicht den Kindern ein unmittelbares Erleben der Natur«, sagt Frenzel. Es geht ihr darum, »tätige Liebe zur Natur« zu wecken, und nicht um bloße Wissensvermittlung. Die Kinder werden durch die Pflanzen und die in ihnen versteckten Farben empfänglich für die sie umgebende Natur. Der ganze Bogen vom Feld zur Farbe kann dabei durchlaufen werden. Und gerade das wundersam Verborgene in den Pflanzen, ihre Farbe, spricht die Seele der Kinder im Fühlen an.

Ein Erzengel aus Färberkamille

Susanne Frenzel ist vom Sinn und Wert ihrer Arbeit und den darin liegenden pädagogischen Möglichkeiten überzeugt. Allerdings wirkt die zarte Person noch etwas unsicher im Chaos der Drittklässler.

Die Jungen bittet sie, auf ihre Pullover und Hosen aufzupassen, weil der Holundersaft schwer rauszuwaschen ist. Sie hat vorsichtshalber ein paar alte Hemden mitgebracht. Die Jungen zerquetschen mit dem Kartoffelstampfer Pflanzenreste oder drücken sie durch ein Sieb. Die Mädchen bewundern die Farben. Es brodelt und zischt. Dann ein kleiner Zaubertrick. Frau Frenzel gibt einen Löffel Kreide zum Holundersaft. Wenn der kalt geworden ist, hat sich die Röte aus den Beeren verflüchtigt und ein sattes Violett ist entstanden. Das wird die vierte Farbe für das Michaelsbild sein.

Und noch ein Kunststück auf dem Probepapierchen, bevor das Bild gemalt wird: Frau Frenzel geht mit einem Essigschälchen durch die Bankreihen. Ein Pinselstrich davon und der Holunder wird pink. »Der Holunder hat ja mehrere Farben in sich«, staunen die Kinder.

Sie malen den Drachen, der sich aus dem Rotlila des Holunders durch den Essig pink abhebt und dem Erzengel Michael entgegen stemmt. Der taucht aus dem Gelb der Färberkamille und dem Orange der Annattosamen von oben herab auf und hält sein krapprotes Schwert in der Hand.

Eine Pflanzenfärberei in der Schule

Susanne Frenzel würde auch gern mit selbst hergestellten Pflanzenfarben Wände lasieren, zum Beispiel in dem zukünftigen Unterstufengebäude der Schule. Unbedingt bräuchte sie eine Werkstatt, wo all ihre Kisten und Dosen, Siebe und Einkochtöpfe stehen könnten – zum Arbeitseinsatz bereit. »Ja, es wäre schön, diese Werkstatt in der Schule zu haben und nicht immer wieder alles abzubauen und nach Hause tragen zu müssen«, meint sie ein wenig verzweifelt ob des logistischen Aufwands.

Ab nächstem Frühjahr wird es im neu und großzügig geplanten Schulgarten auch Beete mit Färberpflanzen geben. Dann würde die Werkstatt vor Ort erst recht Sinn ergeben. Pädagogisch wertvoll wäre sie auf jeden Fall.