In der Elternschaft schlummern ungeahnte Möglichkeiten

Ahmed Abdel-Karim

Ahmed Abdel-Karim ist seit fünf Jahren Mitglied im Sprecherkreis des Bundeselternrats. Die Erziehungskunst führte ein Gespräch mit ihm über die Mitarbeit der Eltern in der Waldorfbewegung und die Aufgaben und Ziele des Bundeselternrats.

Erziehungskunst | Wie sind Sie dazu gekommen, im Bundes­elternrat der Waldorfschulen mitzuwirken?

Ahmed Abdel-Karim | In der ersten Klasse unseres Sohnes wurde ich erstmals als Vertreter in den Eltern-Lehrer-Rat unserer Schule in München-Daglfing gewählt und seither jedes Jahr erneut. Im Eltern-Lehrer-Rat wurde ich von einer Mutter gefragt, ob ich sie nicht in den Landeselternrat Bayern begleiten wolle.

Die erste Tagung nahm ich als Gast wahr, bei der zweiten war ich schon als Vertreter unserer Vertreterin dabei und ab der dritten Tagung  war ich als Vertreter unsere Schule delegiert. Im Landeselternrat Bayern wurde ich zwei Jahre später neben zwei weiteren Elternvertretern zum Sprecher gewählt und innerhalb unserer Geschäftsverteilung  in den Sprecherkreis des Bundeselternrats delegiert. 

EK | Wie geht es Ihnen heute im Bundeselternrat?

AAK | Die Zusammenarbeit in diesem Gremium ist hervorragend, konstruktiv und sehr kollegial, obwohl der Sprecherkreis nicht nur aus zehn Elternvertretern der Regionen in Deutschland, sondern auch aus drei Vertretern der Lehrerschaft, einem vom Bundesvorstand und einem von der Bundesgeschäftsstelle besetzt ist. Bei dieser Besetzung strömen diverse Gedanken und Überlegungen zusammen und sind Grundlage für vielfältige Gespräche und Verhandlungen. 

EK | Was sind die Aufgaben des Bundeselternrates?

AAK | Zunächst ist es die Aufgabe des Sprecherkreises, die zweimal jährlich stattfindenden Bundeselternratstagungen inhaltlich und personell vorzubereiten und die gastgebenden Schulen bei der Organisation und Ausrichtung der Tagung zu unterstützen. Unsere Aufgabe hat sich weiterentwickelt. Wir arbeiten daran, auch Impulse zu setzen, das heißt, Fragen der Elternschaft von morgen aufzugreifen und zu Themen künftiger Tagungen zu machen. Eine weitere Aufgabe sehe ich darin, die Belange, Sorgen und Bedürfnisse ebenso wie die Erwartungen der Eltern aufzugreifen und in das Bewusstsein des Waldorf-Schullebens zu bringen.

So waren wir intensiv darum bemüht, eine eigene Vertretung in die Bundeskonferenz entsenden zu können, um dort Elternanliegen unmittelbar  vortragen zu können. Dies ist uns bei der Neugestaltung der Strukturen gelungen: Zwei Elternvertreter sitzen in der Bundeskonferenz. Auch in der öffentlichen Diskussion zur Bildungspolitik wollen wir uns stärker beteiligen. So dürften Erklärungen des Bundeselternrats im Bund der Freien Waldorfschulen zu unterschiedlichen Bildungsfragen eine andere Wirkung haben, als eine Erklärung aus der Bundesgeschäftsstelle in Stuttgart. Leider haben wir uns noch nicht im gebotenen Maß Gehör verschafft. Aber wir arbeiten daran.

EK | Der Bundeselternrat soll die Mitwirkung der Eltern bei der Weiterentwicklung der Waldorfschulen sicherstellen. Mit welchen Fragen sind sie zur Zeit beschäftigt?

AAK | Einerseits damit, was wir dazu beitragen können, damit »Waldorf drin ist, wo Waldorf drauf steht«– das ist übrigens das Thema der nächsten Bundeselternratstagung im Februar 2011 in Saarbrücken. Das Thema »Der Unterricht der Naturwissenschaften in der Oberstufe« war Thema einer Tagung des Sprecherkreises. Fortbildungsmöglichkeiten für unsere Eltern zu schaffen und zu fördern, ist ein Anliegen unserer Landeselternräte in den Regionen, wie des Bundeselternrats. Andererseits versuchen wir auf Landesebene die Schulen politisch zu unterstützen, zum Beispiel bei Podiumsdiskussionen, Demonstrationen oder Anfragen bei Politikern im Wahlkreis und den Bildungsausschüssen oder beim Kultusministerium direkt. Hier liegt in der Elternschaft ein Potenzial, das bislang noch schlummert. 

EK | Was erwarten Sie von Ihrer Arbeit im Bundeselternrat?

AAK | Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass Waldorfschulen als das wahrgenommen werden, was sie sind: gleichberechtigte Partner in der Schul- und Bildungs­landschaft mit einem eigenen Profil, die staatlich finanziell entsprechend unterstützt werden. Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass »Waldorf« und Waldorfschulen nicht mehr solchen Vorurteilen begegnen, wie dies in den ver­gangenen Jahrzehnten der Fall war … Und ich möchte dazu beitragen, dass die Elternschaft ihre Schule und die Schulbewegung durch politische Arbeit unterstützen kann. Der einzelne Brief eines Geschäftsführers an einen Bürgermeister oder die Regierung hat eine andere Wirkung als Briefe aus einer Elternschaft von dreihundert Elternhäusern. 

EK | Gibt es Fragen, auf die Sie die Eltern besonders aufmerksam machen wollen?

AAK | Die Eltern sollten sich stärker in der Schule, deren Umfeld und in die Gesellschaft hinein engagieren. Daraus ergeben sich Einsichten, die ich in meinem konkreten Leben, in meinem beruflichen Alltag umsetzen kann. In meinem beruflichen Alltag als Rechtsanwalt mit einer eigenen Kanzlei erlebe ich häufig Situationen im Umgang mit Mandanten, Gegnern, Kollegen, die ich durch eine andere Betrachtungsweise überdenken kann.

So gesehen, ergibt sich durch die Schulzeit nicht nur ein Gewinn für unsere Kinder, sondern auch eine Chance zum Weiterkommen, zu einer Fortentwicklung für uns Eltern. Zum Beispiel die Frage, wie der Gedanke der Dreigliederung in unserer Gesellschaft umgesetzt werden kann. Diese ist ein elementarer Ansatz Rudolf Steiners zu gesellschaftspolitischen Fragestellungen, die nicht in unsere Schulen, sondern wohl eher durch unsere Eltern in die Gesellschaft hineingetragen werden muss. Ein anderer Aspekt ist die Frage der Umwelt, der Ernährung, des Verbraucherbewusstseins und der Gesundheit. Hat nicht Rudolf Steiner den Grundstein für die biologisch-dynamische Landwirtschaft und die anthroposophische Medizin gelegt?

Hier würde ich mir mehr Angebote für die Eltern wünschen. Natürlich geht es im Alltag unserer Schulen zunächst einmal darum, den Schulbetrieb zu organisieren. Aber vielleicht könnte ein weiterer schulischer Auftrag auch darin liegen, Veranstaltungen anzubieten, die das »Leben nach der Schule« betreffen und sich damit unmittelbar an die Elternschaft richten. Die gesamte Schulbewegung müsste deutlicher zeigen, was sie einzigartig macht: Es gibt derzeit keine Schule, die ein Unterrichtsmodell weltweit anbietet. Der Austausch unter den Waldorfschulen könnte verstärkt und die Schulen dabei unterstützt werden. Zur Zeit ist es immer noch alleinige Aufgabe der Schule oder gar des Lehrers und der Eltern, sich um einen Austausch mit einer anderen Waldorfschule zu kümmern. Feste Partnerschaften von Schulen sollten international unterstützt und gefördert werden, um einen häufigeren Austausch von Schülern zu ermöglichen. 

EK | Wie sehen Sie die Zukunft der Waldorfschulen in Deutschland?

AAK | Solange unsere Waldorfschulen ihren Auftrag »wahrhaftig«, das heißt, aus einem inneren Impuls heraus ernsthaft und profiliert erfüllen und sich nicht zu alternativen Schulen entwickeln, habe ich keine Zweifel, dass auch noch meine Urenkel auf eine Waldorfschule gehen können. Das setzt aber voraus, dass eine Schule auch tatsächlich Waldorfschule ist und nicht nur so auf ihrem Briefkasten firmiert. Dies wiederum setzt eine ständige Auseinandersetzung mit der Frage voraus, was denn »Waldorf« ist? Epochenunterricht findet sich heute auch in anderen Schulformen, ebenso ein rhythmisierter  Unterricht oder farblich unterschiedlich lasierte Klassenzimmer. Da haben sich die  neurophysiologischen Erkenntnisse der Wissenschaft schon durchgesetzt. Vielleicht macht aber auch der Eurythmieunterricht oder die Parzivalepoche in der elften Klasse eine Waldorfschule aus?

Ich habe keine Zweifel, dass in der Waldorfschulbewegung engagiert und kompetent, wenn auch kontrovers an diesen Fragen gearbeitet wird und die Waldorfschulen zukunftsfähig sind.