Kein Geigenfeind

Geigenfeind entwickelte eine berufsbegleitende Fortbildung, die es Pädagogen und interessierten Laien ermöglicht, Musizieren in den pädagogischen Alltag zu integrieren. Renata Canestrari, langjährige Kinderkrankenschwester, hat Rudolf Geigenfeind zu seiner Arbeit befragt. 

Renata Canestrari | Herr Geigenfeind, 2008 wurden Sie im Auftrag des Bayerischen Kultusministeriums nach Venezuela und 2009 zu einer Fortbildung für Erzieher nach Kairo eingeladen. Was war ihr Auftrag?

Rudolf Geigenfeind | Die Reise nach Venezuela kam durch zwei Impulse und Unterstützer zustande: David Ascanio, Mitbegründer des »El Sistema« und enger Kontaktmann zum Initiator José Antonio Abreu, hatte mich im Unterricht in einer Schule in München erlebt und war von meiner Methode so begeistert, dass er mich spontan nach Caracas einlud und mich bat, dort mit einigen Musikgruppen und Orchestern zu arbeiten. Ein weiterer Anstoß kam durch das Bayerische Kultusministerium, das von meiner geplanten Reise erfuhr und mich daraufhin bat, der Frage nachzugehen, inwieweit das dortige Musiksystem auf bayerische Grund- und Hauptschulen übertragbar sei. Bei den Feiern zum 30-jährigen Bestehen der Orchesterbewegung in Venezuela erlebte ich vom kleinsten »Nucleo« bis zum größten Musikzentrum mit täglich etwa 1.500 Schülern sowohl Favelas als auch Multimillionärs-Geburtstagspartys. Die Einladung nach Kairo entstand ebenfalls durch Empfehlung aufgrund meiner Unterrichts­methode. In einem dreisprachigen Kindergarten in Maadi mit Kinder aus über 20 Nationen musizierte ich mit den Kindern und führte täglich Weiterbildungen für die Er­zieherinnen durch, die aus Ägypten, Deutschland, Amerika und der Schweiz kamen.

RC | Arbeiten Sie vorwiegend mit behinderten Kindern oder Kindern mit psychischen Problemen zusammen?

RG | Nein. Aber tatsächlich schickten im Lauf meiner Unterrichtsjahre vermehrt Eltern ihre »besonderen« Kinder zu mir in den Unterricht. Auch gab es Kollegen, Therapeuten und Kinderärzte, die meinen Unterricht weiterempfahlen. Ich habe über viele Jahre hinweg die therapeutische Wirkung meiner Arbeit beobachtet, auch wenn ich nicht im eigentlichen Sinne musiktherapeutisch arbeite, sondern künstlerisch. Auch bei nachlassendem Interesse zu Beginn der Pubertät haben die Kinder mit Hilfe meiner Methode oft ein neues und persönliches Interesse an ihrem Instrument entwickelt.

RC | Was ist das Besondere an Ihrem musikalischen Ansatz?

RG | Musik ist eine Zeitkunst, sie lebt im Hier und Jetzt. Alle Menschen erleben Musik un­vergleichlich intensiver, wenn sie sie als »Komponist« oder »Musiker« mitgestalten. Ich führe hin zu einer reflektierten Mitgestaltung und damit zu intensiven, unwiederholbaren Einzel- und Gruppenerlebnissen. Ich rege an zum eigenen Tun. Jeder ist aufgefordert, seine eigene Musik zu finden. Bewegung und Sprache spielen dabei eine große Rolle. Auch hinsichtlich dessen, wo die Menschen im Moment seelisch und körperlich stehen. Ich setze keine technischen Ziele, sondern nehme das an, was im Moment möglich ist.

RC | Wie kam es zur Gründung von EduCultura?

RG | Bei den Vorbereitungen zu den Vorträgen in der Anthroposophischen Gesellschaft zur »Menschenwissenschaft durch Kunst« unter der Leitung von Friedwart Husemann in den 1990er Jahren in München fand ich das, was sich für mich als Musiker herauskristallisiert hat, in der Anthroposophie bestätigt. In der Institution Schule fühlte ich mich aber nicht frei genug, das zu entwickeln, was ich als Musikpädagoge weitergeben wollte. Ich wollte meine vielfältigen Erfahrungen und Forschungsergebnisse zu einer eigenen Methode ausformulieren. So entstand EduCultura, ein Weiterbildungskonzept, das ich für Pädagogen in Deutschland und Italien anbiete.

RC | Wie sieht diese Weiterbildung aus?

RG | Es gibt zwei Angebote. Zum einen werde ich von pädagogischen Einrichtungen angefragt, die mehr Musik in ihren Alltag integrieren möchten. Das Fach Musik ist Teil der Erzieherausbildung. Die Studenten werden aber meist nicht genügend ermutigt, mit ihren Kindern selbst zu musizieren. Im ersten Jahr komme ich sechs Mal für eine Woche in die Einrichtung, musiziere mit den Kindern, reflektiere die Musikstunden und spreche über die Wirkung von Musik im Gesamtteam. Es gibt einen Eltern- und auch einen Instrumentenbauabend. Im zweiten Jahr bin ich nur noch vier und im letzten Jahr nur noch zwei Mal »vor Ort«. Mein Rückzug ist von Anfang an geplant und gewollt, so dass die »Musikerzieherinnen« die Kinder danach selbstständig gut begleiten können.

Das zweite Angebot ist eine Fortbildung, die außerhalb der Institution, in sechs Modulen, inklusive Supervision, stattfindet. Außerdem bieten wir Musik-Kultur-Ferien für Familien und Pädagogen in Italien an. Dieses Angebot stimmen wir individuell mit den Wünschen der Teilnehmer ab.

RC | Was ist Ihre Kernbotschaft?

RG | »Jeder kann musizieren, der musizieren will«. Viele von uns haben unschöne Erinnerungen an den eigenen Musikunterricht, die einem den Mut am Musizieren genommen haben: Noten lesen, Tonarten und Kadenzen lernen, vor der Klasse Vorsingen.

Das ist bei meiner Arbeit ein absolutes »no go«. Es geht darum, durch freudiges und entspanntes Musizieren die eigene Persönlichkeit zu entdecken. Die Kursteilnehmer brauchen keine Vorkenntnisse, nur Offenheit, die Bereitschaft zur Selbstreflexion und das Interesse, mit Kindern zu musizieren. Ich habe ein spezielles Instrumentarium entwickelt, mit dem ich arbeite und mit dem jeder sofort musizieren kann, ohne zuvor Fingerübungen gemacht zu haben, wissen zu müssen, wo das a1 »wohnt« oder wie der Bass-Schlüssel aussieht.

RC | Gibt es weitere »Zielgruppen«, die von Ihrer Methode profitieren?

RG | Die Lehrer und Erzieher liegen mir besonders am Herzen. Aber auch Verhaltensoriginelle, Behinderte, Menschen in Umbruchsituationen und alle Gemeinschaften, in denen es um die Prozesse zur Formung einer Gruppe geht. Als Künstler und Berater möchte ich musikalisch unsichere Klassenlehrer unterstützen, z.B. im rhythmischen Teil des Unterrichts dabei sein, oder zu einer Geschichte, die auch für die Monatsfeier geeignet ist, gemeinsam eine Musik entwickeln.

Die Musik entsteht aus einem geführten gemeinschaftlichen Zusammenwirken, als ein lebendiges Gesamtkunstwerk, an dem jeder mitgewirkt hat. Musizieren ist eine zuverlässige Unterstützung bei der Bildung einer homogenen Klassengemeinschaft. Bei einer Musik, bei deren Entstehung »ich« mitgewirkt habe, bin »ich« innerlich viel stärker beteiligt, als an einer Musik, die von außen über das Notenbild an mich herangetragen wird. Das ist eine Dimension des Musizierens, die ich bei Rudolf Steiner angedeutet finde sowie bei Hermann Pfrogner in seinem Vermächtnis mit dem Titel »Helfen – Heilen – Harmonisieren, die Zukunftsaufgabe der Musik«. Ich meine, wir müssen beim Musizieren über das Ausprobieren zum Fragen und damit zu einem tiefen Verstehen kommen, um dann mit größerer Bewusstheit selbst gestalten zu können. Es geht darum, gemeinsam mit den Pädagogen das Musizieren als Bewusstseinsprozess neu zu erfahren und wie wir Musik helfend, heilend und harmonisierend einsetzen können.

Link: www.educultura.com