Mal 20 Minuten nicht quatschen

Nina Huang

Die Tür seiner Werkstatt steht immer offen, wenn Reinhold Öxler unterrichtet. Schon an meinem ersten Praktikumstag sagte er zu mir: »Sie können jederzeit kommen, unabhängig von Ihrem Praktikum.« So freudig er alle Besucher und Gäste willkommen heißt, so unterrichtet er auch: mit Herz und Humor. Ihn interessiert vor allem der einzelne Schüler und ob dieser eine Beziehung zum Handwerk aufnimmt.

Viele Werklehrer machen den Schülern konkrete Vorgaben, indem sie zum Beispiel die Werkstücke markieren oder vorarbeiten. Bei Reinhold Öxler muss jeder selber das Material vom Werkstück wegnehmen und seine Form finden, die etwas ihm ganz Eigenes zum Ausdruck bringt. Seit 1987 ist der ausgebildete Schreiner Werklehrer an der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart.

Vorzugsweise arbeitet er mit Holz, aber auch mit Metall und Stein. »Der Werkstoff Holz«, so sagt er, »ist für mich ein mythologischer Stoff. Holz ist der edelste Werkstoff, weil es dem Menschen so nahe ist. Es entsteht, weil Licht stirbt. Holz ist warm, man fasst es an und es gibt der Hand Wärme zurück.«

So individuell die Schüler, so individuell das »Pensum«, das sie leisten. In den Klassen 6 bis 8 bietet Öxler als »Pflichtprogramm« Klöpfel, Pfannenschaber, Salatbesteck und Schale an. »Je nach Fähigkeit und Motivation des Schülers kommen Bogenbau, Kanubau, kleine Möbel, Spiele, Boards, Modelle, bewegliche Spielzeuge dazu, das dürfen die Schüler selbst entscheiden, wenn das Alter passend ist«, führt er aus. »Ich habe manchmal Schüler, die machen nur das Pflichtprogramm, nur einen Klöpfel, dann ein Salatbesteck und eine Schale. Sie kommen nicht zu mehr, aber sind trotzdem begeistert. Wenn einer in der 6. Klasse schnell ist, schafft er einen Klöpfel, einen Pfannenschaber und ein Salatbesteck. Wenn er langsam ist, macht er nur einen Klöpfel. Ich gebe als Anleitung nur Beispiele und übe mich dann in Geduld. Weniger ist da manchmal mehr.«

Ich frage nach. Warum gerade ein Klöpfel? »Weil es das erste Werkzeug ist, im wahrsten Sinne des Wortes ein Ur-Teil des Baumes. Und das sollen auch die Schüler lernen: Urteilen und Entscheidungen treffen. Rund oder gerade?« Und Öxler holt weiter aus: »Durch den Tastsinn findet eine permanente Sinnesschulung statt: Kreis in Form einer Walze oder Oval, der Stiel muss gerade sitzen. Das sind geometrische Grunderfahrungen. Ziel ist es, die Aufrichte und Symmetrie zu lernen, ohne Hilfe oder Grenzen. Es ist, als würden die Schüler modellhaft die ganze Menschheitsentwicklung durchmachen. Dem Salatbesteck muss man zuerst mal die Form geben und dann Innen und Außen in Harmonie zueinander bringen. Die Steigerung ist die Schale.«

Diese Zusammenhänge erläutert Öxler anhand des Bogenbaus, dessen Funktionsweise ohne das Hebelgesetz nicht zu verstehen ist, das in der selben Klassenstufe im Hauptunterricht behandelt wird. Menschenkundlich schließt das an das Gliedmaßenwachstum in diesem Alter an. »Die Schüler sind nicht mehr Kinder, im Gefühl wach, übersensibel und undefiniert. Wie ich die Biegung des Bogens mache, das kann ich messen und fühlen, das ist Sinnes- und Gefühlsschulung am realen Werkstück. Das Gefühl wird real durch den Tastsinn, durch das Sehen und die Wahrnehmung bis in die Fingerspitzen hinein.«

Erst in der 9. Klasse liegt der eigentliche Einstieg in das Schreinern als handwerkliche Kunst. Es entstehen Gebrauchsgegenstände, zum Beispiel ein Hocker, eine Bank oder ein Nachtkästchen. Jetzt, im Pubertätsalter, braucht es die reale Auseinandersetzung mit den Gesetzmäßigkeiten der Welt. »Das Schreinern schult die Selbsterkenntnis. Die drei Raumesrichtungen, das Formen durch das Hobeln, die exakten Holzverbindungen, festgelegt durch Maß und Zahl. Das ist in der 9. Klasse dran – Urteilsfindung, Selbsteinschätzung am Werkstück.«

Öxler will, dass der Schüler Freundschaft schließt mit seinem Stück Holz, das er sich irgendwo abspaltet. Es soll ihm gefallen, es soll ihn durch seine Farbe und Form anregen und kreativ seine individuelle Form finden lassen. »Ich habe keine Muster. Der Schüler soll mich nicht kopieren. Wenn der Schüler seine Form findet, findet er sie auch im Seelisch-Geistigen«, da ist sich Öxler sicher. Schön ist für ihn eine Form, wenn sie individuell ist. »Was die Natur an Schönheit schafft, kann durch Handwerk und Kunst gesteigert werden« – das sollte die Erfahrung des Schülers sein.

Meine Frage, ob sich die Schüler heute handwerklich ungeschickter anstellen als früher, wehrt Öxler in dieser Form ab. Obwohl heutige Schüler tatsächlich ungeschickter seien, habe er den Eindruck, das Bedürfnis, sich mit Künstlerisch-Handwerklichem zu beschäftigen und sich dafür zu begeistern, nehme eher zu. »Sie lernen schnell, weil sie begeistert sind. Sie freuen sich, hier zu sein, keinen Frontalunterricht zu haben.

Doch sollen sie in einen Arbeitsprozess kommen und nicht herumquatschen. Ich gebe ihnen 20 Minuten Zeit, in denen sie nicht fragen dürfen. Sind diese um, dann dürfen sie mich wieder fragen. Aber es gelingt nicht immer, alle ins Boot zu kriegen. Das ist ja auch verständlich, denn sie können ja nicht immer wollen, wo so vieles hochkommt an unverdauten Erlebnissen«, kommentiert er lachend.

Für Öxler ist das Entscheidende an der handwerklichen Arbeit, dass mit jedem Arbeitsschritt ein Willensprozess stattfindet. Widerstand muss überwunden werden, das stärkt den Willen. Die Materie, die es auf der Welt gibt, wird vom Menschen bearbeitet. Jeder physische Widerstand fordert unseren Willen heraus. »Am einfachsten ist es, wenn der Wille über die Begeisterung kommt.

Doch kann es auch umgekehrt gehen: Zuerst muss man etwas tun und die Begeisterung entzündet sich daran. Das ist Handwerk!«

Zur Autorin: Ning Huang ist Assistenzlehrerin im Praxisjahr an der Freien Waldorfschule am Kräherwald in Stuttgart. Sie absolviert zur Zeit ein Praktikum in Holzbildhauerei bei Reinhold Öxler an der Freien Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart.