Malala – die Jeanne d’Arc aus dem Swat-Tal

Ute Hallaschka

Es scheint in letzter Zeit ein wenig still geworden um dieses Mädchen, das die Welt bewegte. Malala Yousafzai, die Kinderrechtsaktivistin aus dem Swat-Tal in Pakistan, die 2014 als jüngste Preisträgerin in der Geschichte den Friedensnobelpreis erhielt. 2012 wurde sie in ihrer Heimat von den Taliban überfallen und in den Kopf geschossen. Sie überlebte den Anschlag schwer verletzt und musste mit ihrer Familie nach England emigrieren. Malala setzt, inzwischen als junge Frau, ihren Kampf für das Recht auf Bildung für alle Kinder der Welt fort. Nach wie vor bedrohen die Taliban sie mit Mord, wenn sie nach Hause zurückkehrt. Doch neuerdings zeigen sich auch im Netz Hasskampagnen gegen sie, von allen möglichen Seiten. Die einen werfen ihr vor, eine Marionette des Westens zu sein, die anderen, dass sie das Leiden instrumentalisiere, als Bestseller-Autorin und Vortragsrednerin, die nur auf persönlichen Erfolg aus sei.

Die Lebens- und Leidensgeschichte dieses Mädchens trägt durchaus Jeanne d’Arcsche Züge.

Geboren wurde Malala am 12. Juli 1997 in Mingora in Pakistan. Als älteste Schwester von zwei nachfolgenden Brüdern, Khushal und Atal. Sie stammt aus dem Volk der Paschtunen und wurde benannt nach der Poetin und Volksheldin Malalai. Von Geburt an nimmt ihr Leben einen ungewöhnlichen Lauf. Es ist üblich im gesellschaftlichen Milieu ihrer Herkunft, dass die Geburt eines Sohnes öffentlich gefeiert, diejenige einer Tochter hingegen beklagt und betrauert wird. Ganz anders verhält sich Malalas Vater. Er bricht dieses Klischee und feiert stolz die Geburt seiner Tochter als eines Menschenkindes. Sie selbst versäumt es nie, in ihren Reden und Veröffentlichungen die tiefe Dankbarkeit dafür zum Ausdruck zu bringen. Durch ihren Vater erfährt sie alle Unterstützung und Förderung ihrer Persönlichkeit. Er wiederum genießt als Sohn eines bekannten Religionsgelehrten nicht nur Respekt, sondern gilt als »Der Freund aller Freunde«.

Frauen müssen draußen bleiben

In ihrer Autobiographie »Ich bin Malala«, die sie gemeinsam mit Christina Lamb geschrieben hat, schildert Malala das Familienleben: ein offenes Haus, in dem unentwegt Gäste ein- und ausgehen. Als kleines Mädchen sitzt sie im Raum der Männer und lauscht deren Gesprächen – dort geht es wesentlich interessanter zu, als in der Küche bei den Frauen. Selbstverständlich beginnt sie sehr früh sich zu fragen, weshalb Frauen aus diesem öffentlichen Gesprächsraum verbannt und isoliert werden – spätestens als sie selbst, ungefähr ab dem Alter von neun Jahren, sich dort nicht mehr aufhalten darf. Das ist eine der Besonderheiten im Stil ihrer Erzählung – vollkommen ideologiefrei und unverbittert beschreibt sie dieses Aufwachsen aus der Perspektive des Kindes. Neugierig, offen, fragend, Widerstand leistend, aber immer aus dem Gefühl der völligen Geborgenheit in der Familie. Diese gewährt ihr inneren Halt und Sicherheit, so dass es letztlich kein Problem ist, auf die Bedürfnisse der Umgebung Rücksicht zu nehmen. Durch die Rückendeckung ihres Vaters weiß sie sich in allen wesentlichen Fragen der Individuation auf der sicheren Seite. Was er dem Kind vermittelt, ist der gewaltfreie Widerstand, der niemals eine notwendige Auseinandersetzung meidet, aber keine Provokation sucht. Malalas Vater ist Lehrer und betreibt eine private Schule, die durch Geldmangel permanent von der Schließung bedroht ist. Kinder armer Familien müssen kein Schulgeld zahlen. Alle Schüler, ob Mädchen oder Jungen, sind sich des Luxus bewusst, den ein Schulbesuch bedeutet, in einer Gesellschaft, in der Kinderarbeit und Analphabetismus an der Tagesordnung sind. Entsprechend motiviert und engagiert besuchen sie den Unterricht. Es gibt kaum Materialien, eigentlich nur Tafeln, Stifte und Papier. Doch das hindert niemanden, weder Schüler noch Lehrer, am Bildungsbetrieb auf höherem Niveau, ob es sich nun um Mathematik, Literatur oder sonst ein Thema handelt. Malalas Mutter ist Analphabetin und hat zunächst nicht das geringste Bedürfnis, dies zu ändern. Es ist unglaublich berührend, wie ihre Tochter die Freude beschreibt, als die Mutter sehr viel später in England »freiwillig« lesen und schreiben lernt.

Ein schrecklicher Zufall

Das Leben im Swat-Tal an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan ändert sich drastisch durch die Machtübernahme der Taliban 2007. Die Einführung ihrer Interpretation der Scharia sorgt dafür, dass Mädchen sofort der Schulbesuch verboten wird und sie das Haus ohne männliche Begleitung nicht mehr verlassen dürfen. Zwar drängt die pakistanische Armee die Terroristen 2009 offiziell aus dem Gebiet zurück, doch die Lage bleibt angespannt.

Aus Angst lassen viele, vor allem begüterte Familien ihre Kinder nicht mehr zur Schule gehen, so dass die finanzielle Lage des Vaters noch schwieriger wird. Nun kommt es zum eigentlichen Wendepunkt in Malalas Schicksal. Reporter der BBC besuchen das Tal für eine Dokumentation. Auf der Suche nach Augenzeugenberichten sprechen sie Malalas Vater an. Es wird verabredet, eine Webseite der BBC als Tagebuchblog einzurichten.

Das ältere Mädchen, das sich dazu bereit erklärte, nimmt seine Zusage zurück und da sich sonst niemand findet, übernimmt Malala diese Initiative. Mit elf Jahren schreibt sie unter dem Pseudonym »Gul Makai«, was in ihrer Muttersprache Urdu »Kornblume« bedeutet. Ihr Blog – in englischer Übersetzung – beginnt mit den Worten: »Morgen gehe ich wieder zur Schule!«. Damit wird sie von Hunderttausenden gelesen und international bekannt. Ausgerechnet ihr Vater deckt 2011 durch einen unglücklichen Zufall das Pseudonym auf. Nun weiß alle Welt und auch die Taliban, wer die Autorin ist.

Am 9. Oktober 2012 erfolgt das Attentat. Malala ist auf dem Heimweg von der Schule, als ein Terrorkommando sie überfällt. Das anschließende Bekennerschreiben erklärt die Tat als Strafaktion dafür, dass sie sich für die Bildung von Mädchen und Frauen einsetzt.

Ihre schwere Verletzung macht es nötig, sie nach Birmingham auszufliegen. Sie erwacht ganz allein in einer fremden Umgebung. Der Familiennachzug verzögert sich um viele Wochen. Nach unzähligen Operationen zur plastischen Wiederherstellung des Gesichts und des Gehörnervs steht sie bereits am 12. Juli 2013, an ihrem 16. Geburtstag vor der UNO in New York und hält eine Rede – dazu überreicht sie UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon eine Petition für das Recht auf Bildung aller Kinder weltweit mit vier Millionen Unterschriften. Im Februar 2014 besucht sie das riesige Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien und beklagt die verlorene Generation syrischer Kinder: »Warum ist es so leicht, Waffen zu geben, aber so schwer, Bücher zu geben? Wieso ist es so einfach, Panzer zu bauen, aber so schwer, Schulen zu errichten?«

Im Oktober 2014 wird ihr der Friedensnobelpreis verliehen, den sie mit dem indischen Kinderrechtler Kailash Safyarthi teilt, dessen Organisation »Rettet die Kindheit« 80.000 Kinder aus der Sklaverei befreit hat.

In unserer zunehmend gewalttätiger werdenden Welt gibt es kein besseres Bildungsziel als Friedensfähigkeit. Dafür tritt Malala ein. Für Kinder und Jugendliche gibt es eine empfehlenswerte Ausgabe ihrer Autobiographie, wieder mit einer Co-Autorin, als Taschenbuch im Fischer Verlag erschienen. Patricia McCormick: »Malala. Meine Geschichte«.

Zur Autorin: Ute Hallaschka ist freie Autorin.