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Migration und Waldorfschule. Wie kann Bildungsgerechtigkeit gelingen?

Katharina de Roos
Larissa Beckel

Chancengleichheit ist im deutschen Bildungssystem leider immer noch mehr Wunsch denn Realität: der Zugang zu höherer Schulbildung mit ihren zu Studium oder anderen vergleichbaren beruflichen Möglichkeiten qualifizierenden Abschlüssen, kurz: Bildungserfolge sind nach wie vor stark vom sozio-ökonomischen Hintergrund der Eltern abhängig. Wie schwer muss es vor diesem Hintergrund in unserem hierarchisch strukturierten Schulsystem insbesondere für geflüchtete Kinder und Jugendliche sein, Zugang zu höher qualifizierenden Abschlüssen und somit zu gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten zu erlangen!

Hat die Waldorfschule hier möglicherweise den strukturellen Vorteil, dass Kinder und Jugendliche lange Teil einer Klassengemeinschaft sein dürfen und ihre Fähigkeiten in verschiedensten Dimensionen Ausdruck finden können? Kann sie Chancengleichheit ermöglichen, indem durch das Fächerangebot und die besonderen methodischen Zugänge keine Reduktion auf rein kognitive Fähigkeiten und ein daraus resultierendes frühes »Aussieben« stattfindet? Larissa Beckel ging diesen drängenden Fragen durch empirische Forschungen an einer doppelzügigen Waldorfschule im Rahmen ihrer Dissertation nach. Sie untersuchte, welche Erfahrungen geflüchtete Jugendliche in einer deutschen Waldorfschule machen und wie die Waldorfschullandschaft selbst diverser werden kann.

Während des anderthalbjährigen Forschungszeitraums begleitete Larissa Beckel neun geflüchtete Jugendliche im Schulalltag und führte Interviews mit ihnen und dem pädagogischen Team, das an der beforschten Waldorfschule aus einem multiprofessionellen Team aus Lehrkräften und Schulsozialarbeiter:innen bestand. Sie ließ die Jugend­lichen ihren Alltag in Form von Stegreifzeichnungen skizzieren (sogenannte »Narrative Landkarten«).

Beckel erlebte die Schüler:innen hierbei als »kompetente Beobachter:innen« der unterschiedlichen Bildungssysteme, die sie bis dahin durchlaufen hatten. So führte sie ihr Bildungsweg über die Schulen in den Herkunftsländern oftmals auch durch verschiedene deutsche Regelschulen, bevor sie an die Waldorfschule kamen. Auf der Grundlage ihrer Reflexion über ihre Erlebnisse konnten die Jugend­lichen wichtige Hinweise dazu geben, wo sie in Ihrem Umfeld Ressourcen, aber auch Barrieren wahrnehmen, die ihnen gesellschaftliche Partizipation ermöglichen oder eben auch verhindern.

Obwohl die Waldorfschule ursprünglich mit dem Anliegen der Bildungsgerechtigkeit für die Kinder von Arbeiter:innen gegründet worden ist, stellt sich die Situation heute an vielen Schulen anders dar. Im Laufe der vergangenen hundert Jahre hat sich der Großteil der Waldorfschulen dahingehend entwickelt, dass sie nun »ein relativ geschlossenes Milieu« anziehen. So geht zum Beispiel aus der »WEiDe-Studie«, die unter anderem die sozio-ökonomischen Hintergründe von Waldorfeltern untersucht hat, hervor, dass sich an Waldorfschulen nicht der bundesdeutsche Durchschnitt in Bezug auf familiäre Migrationsbezüge (über 40 Prozent bei Kindern und Jugendlichen) abbildet. Dieser betrug zum Zeitpunkt der Studie gerade einmal 10 Prozent an den Waldorfschulen.

Hier kann ein Forschungsprojekt wie das von Beckel wichtige Impulse setzen und Waldorfschulen ermutigen, sich hinsichtlich ihrer Schülerschaft, aber auch in Bezug auf die Zusammensetzung der pädagogischen Teams diverser aufzustellen und das vorhandene Potential in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit eigenen oder familiären Migrationserfahrungen zu nutzen. Waldorfschulen können so einen Beitrag zu mehr Chancengleichheit in der deutschen Bildungslandschaft leisten. Auf unterschiedlichen Ebenen haben die Waldorfschulen verschiedene »Werkzeuge«, um dies zu ermöglichen. Selbstverwaltung und Freiheit in der Unterrichtsgestaltung und -planung bieten Chancen, die pädagogische Arbeit mehr an den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen zu orientieren.

Hierbei sind, so betont Beckel in einem Interview,1 die Schülerbesprechungen und die Konferenzarbeit der Klassenteams als »waldorfpädagogische Instrumente« besonders hervorzuheben. Sie ermöglichen einen »ganzheitlichen Blick auf die Lebenssituation der jungen Geflüchteten« und helfen dabei, »individuelle Angebote zur Unterstützung und Förderung zu finden«. Im Fall der beforschten Schule war für die jungen Geflüchteten das ihnen entgegengebrachte Verständnis für ihre Lebenssituation und ihre durchlebten Erfahrungen besonders wichtig. Das Engagement von Seiten der Lehrkräfte war für sie spürbar und führte dazu, dass sich die Schüler:innen »stärker gesehen und wertgeschätzt fühlen als an anderen Schulen«. Dass »ein vertrauensvolles pädagogisches Verhältnis« aufgebaut werden kann, spielt für das Gelingen der schulischen Arbeit eine entscheidende Rolle. Beckels Forschungsergebnisse zeigen, dass ein multiprofessionelles, divers aufgestelltes pädagogisches Team bzw. Kollegium hierfür von besonderer Bedeutung ist.

Für die Jugendlichen selbst ist es wichtig, dass sie in ihrem Ankommen ernst genommen werden und Teil der Gemeinschaft werden dürfen. Denn sie befinden sich oft in einer ständigen Unsicherheit, gerade auch, was ihre asylrecht­liche Bleibeperspektive anbelangt. Ein im besten Fall positiver Lernort wie eine pädagogisch gut aufgestellte Waldorfschule unterstützt sie darin, ein »normales« Leben zu führen, ohne ständig auf ihre Fluchterfahrung reduziert zu werden. Die Waldorfschule kann ein Ort sein, der die jeweilige individuelle Entwicklungsperspektive ihrer Schüler:innen in den Mittelpunkt rückt. Um diesem Anspruch gerecht werden zu können, ist eine Öffnung zu mehr Diversität in Schüler:innen -, Eltern- und Lehrerschaft der Waldorfschulen unumgänglich. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes können am Beispiel der beforschten Waldorfschule Wege aufzeigen, wie dies gelingen kann.

Larissa Beckel, mittlerweile wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität an der Alanus Hochschule, hat das Anliegen, den gesamtgesellschaftlichen Blick auf Bildungsgerechtigkeit zu schärfen und durch Ihre Forschung Impulse für die (waldorf-)pädagogische Praxis zu geben. Nach dem Abschluss eines Master-Studiums in Ethnologie, in dem sie ein Forschungssemester in Südindien verbrachte, arbeitete sie im Projekt »IQ-Netzwerk-Integration durch Qualifizierung«. Ihr eigener Bildungsweg führte sie dann weiter zur Ausbildung als Waldorf-Klassenlehrerin (Master Klassenlehrer:in). Nach ihrem Abschluss arbeitete sie als Englischlehrerin an der Interkulturellen Waldorfschule in Berlin und promovierte im Rahmen des Graduierten­kollegs Waldorfpädagogik. Larissa Beckel möchte an der Alanus Hochschule ihre Forschungsperspektive hinsichtlich der Inklusionspädagogik erweitern.

Aktuell beschäftigt sie sich mit intersektionellen Ansätzen, die Barrieren für gesellschaftliche Teilhabe aus einer weiter gefassten Perspektive betrachten.

1. https://www.alanus.edu/de/aktuelles/aus-der-hochschule/detail/waldorfschulen-haben-das-grosse-potenzial-kindern-und-jugendlichen-chancengleichheit-zu-bieten


Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik

Das Graduiertenkolleg Waldorfpädagogik wurde 2015 an der Alanus Hochschule begründet. Es dient der Forschung und der Wissenschafts- und akademischen Nachwuchsförderung im Bereich der Waldorfpädagogik und hat sich zum Ziel gesetzt, Forschungsfragen der Waldorfpädagogik systematisch aufzugreifen, zu verfolgen und dadurch die Waldorfpädagogik wissenschaftsbasiert in den akademischen Diskurs zu integrieren. Es vergibt Promotionsstipendien an Doktotorand:innen (derzeit max. 1.500 Euro monatlich für drei Jahre) und begleitet die Promotionen mit Studienveranstaltungen, Doktorand:innenkolloquien und wissenschaftlichen Fortbildungen.

Das Graduiertenkolleg liegt in der akademischen Verantwortung der Alanus Hochschule und kooperiert national und international mit anderen Universitäten. Es finanziert sich aus Mitteln der Software AG-Stiftung, der Pädagogischen Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen, der Waldorf-Stiftung und weiterer Förderer.

Mehr Informationen: www.graduiertenkolleg-waldorfpaedagogik.de .

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