Pär Play – intuitiv und spielerisch vom Leben lernen

Christoph Wegener | In der Waldorflehrerausbildung in Nürnberg erachten wir den Ansatz der Intuitiven Pädagogik als eine Methode der Schüler-Lehrer-Begegnung, so wie man sie zum Beispiel im Einbezug der Nacht zwischen zwei Hauptunterrichten kennt, die nach Rudolf Steiner insbesondere den Willensbereich aktiviert. Was verstehen Sie unter Intuitiver Pädagogik?

Dieter Schwartz | Intuitive Pädagogik ist für mich ein pädagogischer Ansatz in der Erwachsenenbildung, den Pär Ahlbom in Schweden entwickelt hat. Es handelt sich dabei nicht um eine Methode, die man auf Kinder anwendet, sondern um einen Schulungsweg zur Selbsterziehung für pädagogisch tätige Erwachsene, der hilft, die eigene Intuitionsfähigkeit zu entdecken und zu entwickeln. PÄR PLAY, das Üben und Spielen nach Pär Ahlbom, steht dabei im Zentrum. Die Kommunikationskunst der autistischen Kommunikationsforscherin Iris Johansson und das übende Malen von Merete Lövlie kommen als weitere Inhalte hinzu.

CW | Wie vermitteln Sie in Ihren Kursen einen solchen Zugang?

DS | Vorrangig durch körperliche Übungen, die uns individuell oder sozial direkt an Grenzen führen. Geht man dabei durch eine erste Phase von Unvermögen oder Sensation hindurch und kommt in wirkliches Üben, kann man in einer Art von Leerraum landen. Handelt man aus einem solchen Leerraum heraus, fällt, was man vorhat zu tun und was man tut, vollkommen zusammen. Ich könnte diesen Zustand auch als ein Schlafen im Wachen bezeichnen. Viele der Pär Play-Übungen lassen erfahren, was im ersten Moment unmöglich scheint.

CW | Können Sie ein konkretes Beispiel schildern?

DS | Stellen sie sich eine 2er-Übung vor. Einer steht, hält einen Stab, der andere steht davor mit dem Rücken zu ihm und läuft dann langsam nach vorne. Nach einer beliebigen Zeit wirft der Stehende den Stab in den Rücken des Gehenden. Dieser hat die Aufgabe zu merken, wann der Stab von hinten geworfen wird, sich umzudrehen und den Stab zu fangen. Bei dieser Übung haben wir entdeckt, dass es möglich ist, präzis zu unterscheiden, ob der Gehende wahrnimmt, wann der hinter ihm Stehende den Stab tatsächlich wirft oder wann er den Impuls bekommt den Stab zu werfen. Durch den Austausch zwischen Werfer und Fänger kann sowohl der Fänger seine eigene Wahrnehmungs- und Reaktionstätigkeit als auch der Werfer den Grad der Übereinstimmung seiner Impulse und seines Handelns entdecken und immer genauer justieren.

CW | Kann man sich das als eine Art intensive Selbst-Erfahrung vorstellen?

DS | Ja, wenn es geht, unterrichte ich alles als Selbsterfahrung. Außerdem vermittle ich in der Lehrerausbildung noch den konsequenten Ansatz der Konfliktlösung von Iris Johansson, die davon ausgeht, dass Konflikte stets in einzelnen Menschen entstehen, wenn diese an einem inneren Bild von der Wirklichkeit festhalten, das nicht oder nicht mehr mit ihr übereinstimmt. Diesbezüglich habe ich bis jetzt immer erlebt, dass jeder Mensch die volle Kapazität hat, seine eigenen Konflikte zu lösen. Diese verantwortungsvolle Weise, mit Konflikten umzugehen, hat schon vielen werdenden und aktuell tätigen Lehrern Tore zur eigenen Entwicklungs- und Handlungsfähigkeit eröffnet und ihnen geholfen, selbst jahrelang festgefahrene persönliche Verhaltensmuster und -blockaden zu lösen.

CW | Wie hat Ihnen die Intuitive Pädagogik in der eigenen pädagogischen Praxis geholfen?

DS | Ich bin der Intuitiven Pädagogik erst begegnet, nachdem ich schon mehr als zehn Jahre Musiklehrer an einer Waldorfschule war. Später bekam ich dann eine hervorragende Möglichkeit, zu überprüfen, ob das, was ich als Intuitive Pädagogik in mich aufgenommen hatte, der Praxis
auch stand hält. Und das hat sie! Ich wurde gebeten, als vierter Klassenlehrer eine vierte Klasse in einer Situation zu übernehmen, in der meine Vorgängerin direkt in die Psychiatrie gegangen war, die Eltern Krieg gegeneinander führten und die Kinder in ausgeprägten Mobbing­strukturen steckten. Dass sich diese Situation innerhalb von etwa zweieinhalb Jahren völlig zum Positiven wandeln konnte und ich nach der 8. Klasse eine ungewöhnlich sozial zusammenwirkende und auch sehr lernwillige Klasse übergeben konnte, verdanke ich nahezu ausschließlich dem, was ich aus der Intuitiven Pädagogik gelernt habe.

CW | Zu Iris Johansson: Welche Impulse ihres Kommunikationsansatzes sind essenziell?

DS | Die oben erwähnte Konfliktlösung, der Gedanke, dass es keinen Sinn hat, über einen Menschen zu urteilen, dass er schon weiter entwickelt sein sollte, als er im Moment ist, dass wir aber davon ausgehen können, dass jeder von dem Punkt aus, an dem er gerade in seiner Entwicklung steht, noch alles entwickeln kann, was in seiner Konstitution als Möglichkeit angelegt ist und vom Leben selbst dazu angeregt wird. Dieser Gedanke hat mich beim Anschauen der Kinder, der Kollegen und auch von mir selbst hilfreich und befreiend begleitet. Zudem hat Iris Johansson ein klares, für Anthroposophen vielleicht überraschendes Verständnis davon, wie wir die in der dritten Nebenübung Rudolf Steiners beschriebene Gefühlskontrolle erreichen: Indem wir unsere  Grundgefühle – Freude, Trauer, Angst und Wut – als Werkzeuge für unsere menschliche Entwicklung nutzen.

CW | Iris Johansson selbst ist Autistin?

DS | Ja, wie viele Autisten hat sie ein lebenslanges Forschungsgebiet gewählt, in ihrem Fall die menschliche Kommunikation. Dabei benutzt sie, wie die meisten Autisten, Kompensationsbegabungen, die sich mehr auf das Immaterielle beziehen. So sieht sie zum Beispiel bei jedem Menschen dessen spezielle Talente, auch wenn er sie überhaupt nicht ausübt oder noch gar nicht entwickelt hat. Ich konnte dies überprüfen, als sie einem Schüler, den ich sehr gut kannte – sie ihn aber noch nie zuvor gesehen hatte –, bei der ersten Begegnung von seinen besonderen Begabungen berichtete.

CW | Sind Autisten für ein intuitives Erkennen disponiert?

DS | Man könnte das annehmen, muss aber wissen, dass Autisten immer auf den Willensimpulsen anderer Menschen »surfen«. Iris Johansson nimmt diese Willensströme direkt wahr und eignet sie sich an, um daraus eigene Handlungsimpulse zu erhalten. Ohne diese Impulse von außen wäre sie innerlich leer, denn sie hat fast keine eigenen inneren Impulse. Deshalb sind bei Autisten, die keine konstruktiven Impulse von außen erhalten, oft nur ihre stereotypen Ticks wirksam.

CW | Aktivieren wir mit den Übungen der Intuitiven Pädagogik unsere Kindheitskräfte, von denen Rudolf Steiner wiederholt in seinen Lehrervorträgen spricht?

DS | Eine ursprüngliche Disposition von uns Menschen ist, dass wir neugierig, operativ und lernwillig sind. Diese wird beim Üben und Spielen von Pär Play wieder aktiviert, wie verschüttet sie auch sonst im Leben sein mag. Eine weitere kindliche Disposition ist, dass unser Denken und Wahrnehmen noch sehr offen ist, nicht festgefahren in richtig und falsch, gut und böse und so weiter.

Reaktivieren wir unsere eigenen Kindheitskräfte, befinden wir uns in einer viel besseren Lage, um Kindern zu helfen, sich aus ihren natürlichen Disposition herauszuentwickeln. Unser erwachsenes Wachbewusstsein und die damit verbundene pädagogische Verantwortung bleibt dabei unangetastet.

CW | Rudolf Steiner forderte 1919 im ersten Lehrerkurs: »Der Lehrer soll ein Mensch sein, der in seinem Innern nie einen Kompromiss schließt mit dem Unwahren.« Gibt es dazu einen Bezugspunkt bei der Intuitiven Pädagogik?

DS | Nach meiner eigenen Erfahrung sind vor allem Kinder nach dem Rubikon und während der Pubertät sehr dankbar, wenn Erwachsene sich nicht hinter irgendwelchen Masken oder Rollen verstecken.

Wenn wir Erwachsenen mit Spannungen, die es unter uns gibt, offen und konstruktiv umgehen, hilft das Jugendlichen sehr, Vertrauen zu uns zu gewinnen oder zu behalten, da sie meist so sensitiv sind, dass sie diese Spannungen unmittelbar wahrnehmen, wie sehr wir uns auch bemühen, sie zu verdrängen.

CW | Was haben Sie durch die Spielerfahrungen mit Pär Ahlbom gelernt?

DS | Dass der Mensch sich durch das Spielen sehr tiefgehend entwickeln kann. Zum einen war ich von Anfang an begeistert davon, in welche Felder der Sinnesentwicklung, Wahrnehmungs-, Synchronisations- und Sozialfähigkeitserweiterung diese Übungen führen. Sie bilden eine Art inneres Organ aus, mit dem ich die Stimmigkeit in lebendigen Prozessen wahrnehmen lernte. Als zweites habe ich gelernt, wie unterschiedlich die Menschen sich Begriffe bilden, worauf ich mich auf den Weg gemacht habe, so viel wie möglich davon wahrnehmen zu lernen, wie ein konkreter Mensch sich gerade neue Begriffe bildet, was nichts anderes als Lernen bedeutet. Drittens habe ich Pär Ahlbom drei Jahre lang fast jedes zweite Wochenende als sein Lehrling begleitet und dabei so gut ich konnte, seine Kunst aufgesogen, mit Erwachsenen zu spielen und darin für alle Beteiligten neue Entwicklungsfelder entstehen zu lassen.

CW | Worauf kommt es an, wenn mit Erwachsenen gespielt wird?

DS | Menschliche Entwicklung vollzieht sich am stärksten, wenn wir tatsächlich spielen und nicht spielen »um zu«. Denn im Spiel »erkennen« wir als schlichte Erfahrung, wie das Leben natürlicherweise vor sich geht – und auch das, was dieses natürliche Strömen so leicht außer Kraft setzt: unsere vorgestellten Gefühle und Gedanken.

CW | Haben es Waldorflehrer leichter mit der Intuitiven Pädagogik?

DS | Wenn Waldorflehrer es gewohnt sind, innerhalb der eigenen Tätigkeit zu forschen, hilft dies sicher sehr. Dabei geht es oftmals mehr um das »Wie« als um das »Was«. So hat mich Pär Ahlboms Auffassung, dass man meditieren können sollte, selbst wenn gerade der beste Freund vor dem Fenster vorbeiläuft und man ihn begrüßt, sehr angeregt. Eine solche Weise der Meditation haben wir auch in Pär Play unablässig geübt.

CW | Ist die Intuitive Pädagogik ein Gegensatz oder eine Ergänzung der erziehungswissenschaftlichen Methodik?

DS | Eine Ergänzung! Die Intuitive Pädagogik nimmt sehr ernst, was Rudolf Steiner in einem der Lehrerkurse einmal gesagt hat, dass wir die Kinder regelrecht vergiften, wenn wir sie zu etwas bringen, das sie nicht mit Freude tun. Ich gehe tatsächlich davon aus, dass auch wir Erwachsenen uns selbst vergiften, wenn wir etwas tun, mit dem wir uns willensmäßig nicht oder nur teilweise verbunden haben. Insofern erlebe ich die Intuitive Pädagogik als eine sehr geeignete Hilfestellung, mit uns selbst übereinzustimmen.

CW | Sie sagten unlängst in einem der Nürnberger Kurse, dass man eigentlich keinem Menschen etwas beibringen kann. Ist das die Quintessenz des intuitiv-pädagogischen Ansatzes?

DS | Alles, was ich von Dozenten der sogenannten Intuitiven Pädagogik lernen durfte, geschah direkt aus dem kreativen Tun und authentischen Sein heraus, durch ein unmittelbares Mitleben und Miterleben. Dies führte mich zu einem Lern-Begriff, der sich von der üblichen Art von Unterrichtetwerden unterscheidet. Diese Erfahrung ist mir zum Vorbild geworden für mein eigenes Lehrersein.

Die Fragen stellte Christoph Wegener, Dozent und Leiter des Pädagogischen Seminars an der Rudolf Steiner Schule Nürnberg.

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