Rhythmus ist Leben

Erziehungskunst | Was verstehen Sie unter Rhythmus und was hat das mit unserem Körper zu tun?

Carola Edelmann | »Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter ...« – Der in dem Kinderlied besungene Rhythmus trägt uns gleich einer Mutter durch das Jahr. So ist es auch mit den vielfältigen Rhythmen in der Natur, im Kosmos und in unserem Körper, die unser Leben erhalten und mitgestalten. Es lohnt sich, all diese Wunder zu betrachten; sie rufen Staunen und Dankbarkeit in uns hervor.

Seien es die Wellen am Strand, gezeitet durch Ebbe und Flut, die Sonnenauf- und untergänge, oder die Art und Weise, wie ein Schneckenhaus gebaut ist.

Unser Körper ist ein wahres Wunderwerk voller Rhythmen. Sehr schnelle Rhythmen finden wir im Nervensinnessystem. Im Stoffwechsel wiederum geht es viel langsamer zu. In der Mitte gleichen Herz und Lunge diese Gegensätze durch ihre Gleichmäßigkeit aus. Allerdings brauchen sie auch Pflege, damit sie nicht überfordert werden. Die beste Pflege ist, wenn wir unser Leben rhythmisch, im Einklang mit der Natur gestalten.

EK | Unsere Zeit ist von Stress geprägt. Was bewirkt eine rhythmische Lebensgestaltung?

CE | Das ist in unserem Zeitalter der Technik eine große Herausforderung. Einerseits können wir uns durch das elektrische Licht und die technischen Hilfen, die uns viel Arbeit abnehmen, Freiräume schaffen. Anderseits erleben wir, wenn wir zu lange gegen den Tag-Nachtrhythmus leben – z.B. durch Nachtschichten oder dadurch, dass wir weniger körperlich rhythmische Arbeiten verrichten und dies nicht durch Bewegung ausgleichen –, dass wir gesundheitliche Probleme bekommen. Denn dann bekommt eines der genannten Systeme die Oberhand und das mittlere System mit Herz und Lunge kommt in Stress.

Gelingt es uns, unser Leben, auch das Familienleben, rhythmisch zu gestalten, dann können wir erleben, dass sich Freiräume auftun. Wir haben Zeit für Kreativität und Beziehung. Die Kinder können sich in dieser Atmosphäre gesund entwickeln. Eingebettet in die Verlässlichkeit des rhythmischen Alltags, können sie sich entfalten, ohne sich ständig neu orientieren und vergewissern zu müssen. Die Lebenskräfte stehen dem Kind ganz und gar zum Wachsen und Gedeihen zur Verfügung.

EK | Inwiefern ist die kindliche Entwicklung des Kindes mit seinen Krisen ein rhythmisches Geschehen?

CE | Auch die Entwicklung hat ihre Rhythmen und diese können durch Krisen gestört werden, so dass das Kind aus seinem Gleichgewicht gerät. Es können innere oder äußere Ursachen zu Grunde liegen. Manchmal bleibt das Kind gleichsam »stecken« und fühlt sich dadurch unwohl und ist weinerlich oder aggressiv. Manches sehr wache Kerlchen kann schon rechnen und schreiben, weil es sich alles von den Großen abschaut, kann aber seelisch mit diesem Tempo nicht mithalten. Das hat dann oft zur Folge, dass das Kind schnell blass wird. Hunger und Schlaf können beeinträchtigt sein. Manche Kinder sind noch nicht mit ihrer »Körperarbeit« fertig geworden. Sie fallen dadurch auf, dass sie sich nur kurzzeitig konzentrieren können, nicht still sitzen mögen und zappeln. Andere sind ängstlich, nervös oder verträumt. Im Sozialen haben es die Kinder dann oft schwer, mit den anderen in ein fröhliches Spiel zu kommen. Diese Kinder fühlen sich einfach nicht wohl in ihrer Haut, denn der Lebenssinn ist irritiert. Mädchen neigen zu Bauchweh, die Buben haben eher Kopfweh, verweigern sich oder randalieren. Im Schulalter äußert es sich dann mit Bauch- oder Kopfschmerzen oder darin, dass die Kinder ungern zur Schule gehen.

EK | Und in der Pubertät?

CE | Mit der Pubertät tritt das Kind in eine neue, manchmal auch sehr befremdende Entwicklungsphase, auf die ein jedes sehr individuell reagiert. Mädchen zeigen immer öfters »anorektische« Phasen, da sie zögern, ganz Erdenmensch zu werden. Bei den Jungen ist eher das Gegenteil der Fall, sie versuchen, ihren Körper zu testen und schießen dabei oft übers Ziel hinaus und so mancher gebrochene Knochen bedarf der Heilbehandlung. Hält einer dieser Zustände länger an, ist es wichtig, dass die Kinder Hilfe bekommen. Zum Beispiel durch die Rhythmische Massage, die – wie der Name schon verrät –, helfen kann, dass das Kind wieder in seinen gesunden Rhythmus und so zu einem neuen Gleichgewicht findet.

EK | Was ist und wie wirkt die Rhythmische Massage?

CE | Die Rhythmische Massage ist eine Körpertherapie, die mit ihrer rhythmisch lösenden und verdichtenden Griffqualität dem Kind hilft, körperlich und seelisch in seinen gesunden Rhythmus zu finden. Durch die entstehende Wärme und Bewegung werden Blockaden aufgelöst. Anstelle der entstandenen Verspannung stellt sich Ruhe und Entspannung ein. Das Rhythmische System wird gestärkt und kann die Gegensätze von Nerven- und Stoffwechselsystem wieder ausgleichen.

In der Rhythmischen Massage werden alle zwölf Sinne des Menschen angesprochen. Sie haben je nach Alter des Patienten ihren Schwerpunkt.

EK | Zum Beispiel?

CE | In der Entwicklung des Kindes steht die Pflege der auf den eigenen Leib gerichteten Sinne im Vordergrund. Es sind der Tastsinn, der Lebenssinn, der Gleichgewichts- und der Bewegungssinn. Diese Sinne helfen dem Kind, den von den Eltern ererbten Körper vom Kopf bis zu den Füßen zu seinem eigenen umzugestalten. Das ist die Aufgabe im ersten Jahrsiebt. Ist diese Aufgabe gelungen, dann ist das Kind schulreif geworden und hat jetzt freie Kräfte zum Lernen zur Verfügung.

Der Tastsinn wird durch die wärmende sanfte Berührung und ein heilsames Öl gepflegt. Das Kind kann sich in seinem Körper wieder besser spüren. Die rhythmisch gestaltende Behandlung ernährt Bewegungs- und Gleichgewichtssinn. Dies bewirkt, dass das Kind seelisch wieder ausgeglichener werden kann. Die entstehende Entspannung spricht den Lebenssinn an und es kann sich ein wohliges Lebensgefühl einstellen.

EK | Sich berühren lassen – seelisch und körperlich – bedarf ein hohes Maß an Vertrauen. Wie lassen Sie es entstehen?

CE | Wichtig ist, dass das Kind Vertrauen zum Therapeuten findet. Da können die Eltern sehr hilfreich mitwirken, indem sie den Termin freudig ankündigen und die Zeit während der Massage entweder aufmerksam begleiten oder sie zur eigenen Entspannung genießen.

Die Behandlung beginnt bereits bei der Ankunft des Kindes, in der Wahrnehmung, wie es den Raum betritt und in der Begrüßung. Wichtig ist, dass das Kind vorher auf die Toilette geht, dass dann nichts dazwischen kommt, wenn es im vorbereiteten warmen Tuch eingewickelt liegt.

Nicht jedes Kind legt sich gleich freiwillig auf die Massagebank. Es ist wichtig, das Kind dort abzuholen, wo es sich befindet, um es so Schritt für Schritt ins Boot zu holen. Das gilt auch für den gesamten Behandlungsablauf.

Kleinkinder dürfen auf dem Schoß der Mutter oder des Vaters sitzend mit der Berührung durch die Rhythmische Massage vertraut werden. Gerne riechen die Kinder erstmal an dem für sie ausgesuchten Öl und bekommen auch ein goldenes Tröpfchen auf die Hand, mit dem sie sich oder die Eltern einreiben dürfen.

EK | Wie behandeln Sie Kinder? Behandeln Sie die Kinder je nach Alter unterschiedlich?

CE | Der reizoffene Säugling und das Kleinkind vertragen nur eine kurze Behandlung. Wichtig sind rhythmisch runde, wärmende, hüllende und atmende Behandlungsgriffe, um das Kind sozusagen in seinen Körper »einzuatmen«, damit es ihn vom Kopf bis zu den Füßen ergreifen lernt.

Das Schulkind wird in Bezug auf die Griffqualität differenzierter behandelt. Wegleitend sind die Symptome, wegen derer es zur Behandlung kommt. Den Mädchen mit Essstörungen hilft erfahrungsgemäß die Rhythmische Massage sehr. Selbst dann, wenn es ihnen zunächst schwer fällt, sich darauf einzulassen, da ihnen ihr Körper sehr fremd geworden ist. Durch die Massage erleben sie ihn dann wieder besser in Resonanz mit sich und ihrer Umwelt. In der Pubertät – der Zeit des Umbruchs – kann die Rhythmische Massage helfen, den eigenen Körper anzunehmen, in die eigene Mitte und dadurch in die Aufrechte zu kommen. Die größeren Kinder brauchen auch erst Zeit, sich auf die Situation einzulassen, dass sie von einem noch nicht vertrauten Menschen berührt werden. Doch meistens schicken sie dann oft selbst nach einigen Behandlungen ihre Eltern während der Massage ins Wartezimmer oder auf einen Spaziergang und bestellen sie zur Geschichte während der Nachruhe wieder zurück.

Die Nachruhe ist ein wesentlicher Teil der Behandlung. In dieser Zeit gibt man Körper und Seele Gelegenheit, auf die durch die Rhythmische Massage angeregten Heilimpulse zu antworten und sie zu integrieren, so dass ein neues Gleichgewicht gefunden werden kann.

EK | Was geschieht in der Stille oder in den »Pausen« – den »Zwischenzeiten«?

CE | Diese Zeit ist für die Kinder oft eine große Herausforderung – sie sind nicht gewohnt, in die Stille zu kommen und sie dann 20 Minuten auszuhalten. Da ist die Kreativität des Therapeuten und der Eltern gefragt, diese Zeit zu gestalten. In der Regel sind sechs bis zehn Behandlungen ausreichend. Wenn dann je mal wieder Bedarf entsteht, fragen nicht selten die Kinder ihre Eltern, ob sie wieder Massage bekommen können. Die Erfahrung hat gezeigt, dass dann meist drei Behandlungen ausreichen, da sich der Körper erinnert und rasch reagiert.

Immer wieder sagen Kinder zu ihren Eltern, dass sie auch Massagen brauchen würden. Wie wahr! Eltern erleben, dass sie sich schon beim Zuschauen wie behandelt fühlen oder lassen sich selbst Rhythmische Massagen vom Arzt verschreiben.

Den meisten Eltern ist die »Bäuchleinmassage« aus der Säuglingszeit ihres Kindes noch lebhaft in Erinnerung. Eigentlich sollte diese Massage ein lieber Begleiter durch die ganze Kindheit sein.

EK | Was können Eltern zuhause tun?

CE | Die vielen Eindrücke, die das Kind täglich erlebt, können viel besser verdaut werden, wenn es abends noch eine Bauch- oder Fußeinreibung mit einem gut duftenden Lavendelöl gibt. Das Wachsen geht oft mit Beinschmerzen einher, da hilft es, wenn die Beine massiert werden. Die Eltern können sicher Anregungen in einfacher Form für zu Hause mitbekommen, um sie in die rhythmische Pflege im Alltag zu integrieren. So wird erlebbar, dass Rhythmus ein heilsames Element allen Lebens ist.

Das Interview führte Mathias Maurer