Historisch

Rosemarie Wermbter. Ein Jahrhundertleben

Christina Seidel

Im hohen Alter von 97 Jahren verstarb am 17. April 2018 Rosemarie Wermbter unter dramatischen Umständen.

Wie an vielen Tagen zuvor, an denen das Wetter es zuließ, hatte sie mit ihrem Rollator einen Rundgang über die Felder der Stuttgarter Umgebung des Nikolaus Cusanus Hauses gemacht. Seit einem Schlaganfall auf ihrer letzten Reise ins Burgenland bewohnte sie ein kleines Zimmer in diesem Seniorenheim. Geistig klar und nach wie vor wach und interessiert an allem, was in der Welt geschah, hatte sie sich auf ihre nüchterne und unsentimentale Art mit dem Verlust ihrer lebenslangen Selbstständigkeit abgefunden. Der Schlaganfall hatte zu einer beträchtlichen Einschränkung ihres Sehvermögens geführt. Nach ihrem Spaziergang war sie schon fast wieder am Eingang des Hauses angelangt, als sie einen Lieferwagen, der langsam auf den Hof rollte, nicht wahrnahm und ihn mit der vollen Wucht ihres energischen Schrittes mit dem Rollator rammte. Sie stürzte schwer, kam ins Krankenhaus, wurde noch am gleichen Abend operiert, doch das Herz verkraftete den Eingriff nicht mehr, sie verstarb am nächsten Abend.

Geboren wurde Rosemarie Wermbter am Sonntag, den 6. Februar 1921 in Ober-Lazisk in Oberschlesien. Dort war ihr Vater Direktor eines Steinkohlebergwerkes und verantwortlich für 3000 Mitarbeiter. Mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Liselotte verlebte sie eine unbeschwerte Kindheit. Die harmonische Beziehung der Eltern durchwärmte die ersten Jahre. Gerne erzählte sie noch im hohen Alter von ihren Erinnerungen an das schöne Haus mit dem großen Selbstversorgergarten und den vielen Ausflügen in die Umgebung. In ihrem 14. Lebensjahr endete die glückliche Kindheit abrupt durch den Tod der geliebten Mutter nach kurzer Krankheit. Der Vater wollte seinen Töchtern weiterhin die Geborgenheit einer Familie geben und ging bald eine neue Ehe ein. Doch das Verhältnis zur neuen Frau blieb für beide Mädchen kühl und distanziert. Selbst als nach einiger Zeit noch ein Bruder geboren wurde, vermissten die Töchter das einstmals so harmonische Heim.

Gleich nach ihrem Abitur verließ Rosemarie das Elternhaus, um in Berlin eine Ausbildung zur Bibliothekarin zu beginnen. Nach dem Staatsexamen für den mittleren Dienst an Volksbüchereien trat sie mit 20 Jahren in Thorn (heute Torun, Polen), der Stadt des Nikolaus Kopernikus, ihre erste Stelle an. Sie blieb von 1941 bis 1944 an diesem vom Krieg weitgehend verschonten Ort, bis sie zum Arbeitsdienst eingezogen wurde.

Im Februar 1945 vom Dienst beurlaubt, begab sie sich auf abenteuerlichen Wegen in den Wirren des Kriegsendes Richtung Westen, um ihre aus Oberschlesien geflüchteten Verwandten wieder zu finden. Erst jetzt erblickte sie die Zerstörungen des Krieges mit eigenen Augen und geriet mehrfach in Lebensgefahr.

In Schleswig-Holstein fand sie ihre Familie wieder, Cuxhaven wurde in der Nachkriegszeit ihr neuer Wohnsitz, hier verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Hausgehilfin, Hausschneiderin, zahnärztliche Sprechstundenhilfe und Bürokraft. In diesen Jahren lernte sie die Anthroposophie kennen und beschloss, einen neuen Beruf zu ergreifen. Sie wollte Waldorflehrerin werden und bewarb sich in Stuttgart am Lehrerseminar. Von 1948 bis 1949 besuchte sie das Seminar, danach erwarb sie am staatlichen Pädagogischen Institut in Esslingen mit Bestehen der »ersten ordentlichen Prüfung für Volksschullehrer« ihre staatliche Anerkennung. Nun konnte sie als Klassenlehrerin an der Waldorfschule Uhlandshöhe beginnen. Fast 50 Schüler:innen befanden sich in ihrer ersten Klasse. Sie erzählte mir, wie schwer der Anfang war. Die Kinder gingen teilweise über Tische und Bänke. Die Eltern sahen es, denn das Klassenzimmer in der sogenannten Baracke lag auf dem Schulhof, doch man sprach der jungen Lehrerin Mut zu. Viele ihrer Kolleg:innen – berühmte Waldorflehrer:innen der ersten Stunde – hospitierten, gaben gute Ratschläge und doch war sie verzweifelt, weil sie das Gefühl hatte, nicht zu den Kindern durchzudringen. Sie war schon so weit, sich für den Lehrerberuf für ungeeignet zu halten und zu sagen, dass sie zum Glück zurück in ihren alten Beruf gehen könne, als von einem Tag auf den andern der Knoten platzte. Fortan wuchs das Band zwischen ihr und den Kindern. Sie war angekommen, von nun an ging es stetig bergauf. Als sie mir diese Geschichte erzählte, sprach sie davon, wie wenig Geduld man heute mit den angehenden Lehrkräften oft habe ... Wie eng Rosemarie mit den Schüler:innen ihrer ersten Klasse zusammengewachsen war, zeigte sich auf der Trauerfeier, zu der etliche ihrer Schüler:innen – inzwischen über 70-jährig – angereist waren, um von ihrer alten Klassenlehrerin Abschied zu nehmen. Zeitlebens war sie mit den Schüler:innen des ersten Klassendurchgangs innig verbunden und verfolgte ihre Biografien mit großer Anteilnahme. Einige Jahre zuvor hatte es, anlässlich ihres Geburtstages, im Cusanus Haus noch ein großes Klassentreffen gegeben, monatelang zehrte sie von den Begegnungen und sprach von ihrem großen Wunsch, den geliebten Beruf vielleicht auch im nächsten Leben nochmals ergreifen zu dürfen. Denn nachdem Rosemarie zwei Klassendurchgänge erfolgreich durchgeführt hatte, erkrankte sie im Verlauf des dritten schwer an Krebs. Sie wurde bald darauf frühberentet, doch sie überwand die Krankheit, allerdings fehlte die Kraft für eine weitere Lehrtätigkeit.

Mit fast 50 Jahren knüpfte sie – anfangs eher widerwillig – an ihre erste Ausbildung zur Bibliothekarin an. Über 30 Jahre arbeitete sie fortan in der Bibliothek des Waldorflehrerseminars in Stuttgart. Jede Woche nahm sie an den Konferenzen des Seminars teil. Der Kontakt zu den vielen Dozent:innen und Student:innen bereicherte ihr Leben, auch wenn ihr Herz beim Gang über den Schulhof oft wehmütig wurde. Sie war viele Jahre mitverantwortlich für die Herausgabe des Lehrerrundbriefs, wirkte im Beirat der Erziehungskunst mit, schrieb selbst Artikel und unterrichtete auch zeitweise am Lehrerseminar.

Rosemarie blickte am Ende ihres Lebens sehr dankbar auf diesen zweiten Lebensabschnitt, der ihr viele Freiräume ermöglichte. Lebte sie bis dahin stets in sehr beengten räumlichen und pekuniären Verhältnissen, hatte sie nun das große Glück, zum ersten Mal eine eigene schöne Wohnung beziehen zu dürfen und ihrer großen Reisesehnsucht ausgiebig nachzukommen. Sie lebte sehr bescheiden und steckte alles entbehrliche Geld in ihre Reisekasse. Es gibt kaum eine Reise, die sie nicht mehrmals unternommen hätte. Ob Ägypten, Griechenland, Russland, Israel, Irland, Skandinavien, Frankreich oder Italien, sie wusste bestens Bescheid, studierte Land und Leute und vor allem Kunst und Kultur intensiv. Zu zwei Orten hatte sie eine ganz besondere Beziehung. Zur Insel Lanzarote und dem dort ansässigen anthroposophischen Centro, das sie seit seiner Begründung durch das Ehepaar Winzer begleitete. Es war ein fester Menschenkreis von Anthroposoph:innen, der sich nahezu jährlich dort auf der Finca traf und gemeinsam arbeitete.

Der zweite Ort war das Burgenland, die Heimat Rudolf Steiners. In diesem Zusammenhang lernte ich sie im Jahr 1998 kennen, als uns vor einer Reise dorthin empfohlen worden war, Rosemarie Wermbter zu kontaktieren: in ganz Stuttgart gäbe es keine bessere Quelle für Informationen. Seit mehr als 20 Jahren fuhr sie, oft zweimal im Jahr, in die gleiche Pension nach Pinkafeld, eine Gemeinde mit 6000 Einwohnern an den Ausläufern des Wechselgebirges. Längst war sie bei den ursprünglichen, herzenswarmen Burgenländer:innen zum Familienmitglied avanciert, hatte Kinder und Enkelkinder heranwachsen sehen und enge Freundschaft mit der Pensionswirtin geschlossen. Dort trafen wir uns zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Sie entwickelte sich zu einer profunden Kennerin von Rudolf Steiners früher Biografie. Freudig nahm sie das Angebot an, nochmals gemeinsam mit uns und bequem mit dem Wagen an all die Orte zu reisen, die sie in früheren Jahren per Bus und zu Fuß erobert hatte. Wir genossen die unnachahmlichen Schilderungen ihrer vielen Entdeckungen. Rosemarie hatte eine besondere Art, Menschen, Charaktere und Begebenheiten plastisch zu schildern. Die Waldorfpädagogik der Nachkriegszeit mit den längst verstorbenen Lehrern und engen Schülern Rudolf Steiners wurde in ihren Schilderungen lebendig.

Mit einem außergewöhnlichen Menschen war Rosemarie eng verbunden: der russischen Malerin Margarita Woloschin, die damals auf dem Schulgelände der Uhlandshöhe lebte. Durch sie knüpfte Rosemarie in direkter Linie an die Entstehungszeit der Anthroposophie und ihre Gründergeneration an. Besuchte man Rosemarie in ihrer schönen Wohnung im ersten Stock einer alten Villa in der Ameisenbergstraße, wurde man im Wohnzimmer sogleich von Woloschins letztem Gemälde »Orpheus« begrüßt. Fiel der Blick seitlich durch die stets geöffnete Tür ins Nebenzimmer, leuchtete einem ein weiteres Spätwerk der Künstlerin, »Die Speisung der 5000«, entgegen. Woloschin war gegen Ende ihres Lebens fast blind, als sie diese Werke schuf.

Sie male »nur noch für die geistige Welt«, sagte sie über ihre letzten Arbeiten. Als Alleinerbin eingesetzt, verwaltete Rosemarie nach Woloschins Tod im Jahr 1973 den Nachlass der großen Künstlerin mit der ihr eigenen Gewissenhaftigkeit. Sie lebte intensiv mit und in den Bildern und Schriften. Die Organisation der großen Ausstellung in Stuttgart, das Erstellen des Werkverzeichnisses, die Herausgabe eines Buches über Leben und Werk der Künstlerin sowie das Ordnen von Woloschins großer Korrespondenz nahmen viel Zeit in Anspruch. Unzählige Menschen schrieben an Rosemarie oder besuchten sie, um von Woloschin zu hören oder Bilder zu besichtigen. Auch im Cusanus Haus blieb sie für alle, die zur Historie der Gesellschaft forschten, eine unerschöpfliche Fundgrube.

Zeitlebens beschäftigte sie besonders das Geheimnis der Ich-Entwicklung des Menschen. Vieles hatte sie zum Thema über die Jahre zusammengetragen. In diesem Zusammenhang existiert auch eine große Sammlung von Aussagen über »Frühste Erinnerungen«, die sie gerne veröffentlicht hätte, doch fand sich leider kein Verlag dazu bereit. Unzählige Biografien hatte sie studiert, seien es literarische oder private Schilderungen, ihr phänomenales Gedächtnis behielt jede Einzelheit.

In den Jahren seit ihrem Einzug in das Cusanus-Haus wurde es ihr zur Gewohnheit, täglich mit ihrer vier Jahre jüngeren Schwester Lotte, die in Freiburg im Altersheim lebte und die schwer gehbehindert und schmerzgeplagt war, zu telefonieren. Ganz unabhängig von Rosemarie hatte auch die Schwester in jungen Jahren zur Anthroposophie gefunden, war ebenfalls Klassenlehrerin geworden, hatte in den Freijahren zwischen ihren vier Durchgängen noch Eurythmie studiert und das Fach auch über die Pensionierung hinaus unterrichtet. Jahrzehntelang hatten sich die beiden wegen der Entfernung und zu großer Arbeitsbelastung wenig treffen können, doch das innere Band blieb innig bestehen. Es war anrührend, zu erleben, wie eng verbunden die beiden Schwestern waren. Vier Monate nach Rosemarie verstarb auch Lotte. Zwei lange Leben, ganz im Dienste der Waldorfpädagogik, gingen zu Ende. Dankbar blicke ich auf meine Freundschaft mit Rosemarie Wermbter zurück.

Zur Autorin: Christina Seidel war von 1983-2007 Klassenlehrerin. Seit 2008 ist sie als Mentorin und in der Lehrerbildung tätig.

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