Sinnprovinzen des Lebens erschließen

Erziehungskunst | Was ist für Sie Resonanz? Wie würden Sie das in Kurzform erklären?

Hartmut Rosa | Resonanz ist eine Form von Beziehung. Das ist kein objektiver Zustand, sondern eine Weise, sich mit der Welt in ein Verhältnis zu setzen, bei der ich mich lebendig fühle und der Sinn für gelingendes Leben entsteht.

Sie beinhaltet für mich vier Momente: die »Anrufbarkeit« – etwas ruft mich. Das kann ein ästhetisches Erlebnis, ein Mensch, der in mir etwas wachruft, oder eine Aufgabe in der Schule sein. Also: »Ich höre was, das etwas zu mir sagt«, wobei wichtig ist, dass dieses »Andere« auch anders bleibt und ich es mir nicht einfach aneigne; da bleibt immer etwas Irritierendes, Unverfügbares – die Welt entzieht sich meinem Zugriff. Das zweite Moment ist meine Antwort darauf. Ich gehe dem Erlebten entgegen und stelle einen Kontakt her, gehe eine Beziehung ein und antworte darauf. Wichtig ist dabei das Erlebnis der Selbstwirksamkeit – ich kann etwas tun und mit den Erlebnissen umgehen, sie vertiefen. Das Dritte ist das Moment der Verwandlung – in der Beziehung zu den Dingen um mich herum verwandle ich mich. Deshalb kann man auch sagen, dass Resonanz eine Grundform des Bildungsgeschehens ist: Mir begegnet ein Stoff, ein Mensch oder ein Gegenstand, der mich berührt, mit dem ich etwas anfangen kann und dadurch verwandle ich mich. Und es verwandelt sich auch die andere Seite, mit der ich in Kontakt trete – mindestens in ihrer Bedeutung für mich. Das vierte Moment ist die Unverfügbarkeit – ich kann es nicht erzwingen – es ist »non engineerable«. Wenn ich mich darauf einlasse, also z.B. auf einen Menschen, auf eine Musik, weiß ich nicht, was dabei rauskommt. Diese Ergebnisoffenheit ist wesentlich.

EK | Wie kamen Sie auf den Begriff Resonanz?

HR | Die Idee, eine »Soziologie der Weltbeziehung« zu entwickeln, kam zuerst. Ich wollte wissen, welche unterschiedlichen Weisen es gibt, mit dem Leben in Kontakt zu treten. Das hatte auch eine phänomenale Seite. Ich habe versucht, wirkliche Eigenbeobachtung zu machen. Ich habe mich immer am Abend ans Fenster gestellt und versucht zu beobachten »Wie bin ich gerade drauf?«

Ich glaube, ich hatte zuerst den Begriff der Responsivität, weil mir auffiel: Wenn es mir gut ging, gab es etwas – was ich später als Resonanzdrähte beschrieben habe – womit ich mich verbunden fühlte und wenn es mir schlecht ging, gab es etwas, was die Verbindungen unterbrach oder sie erstarren ließ. So habe ich diesen Sinn entwickelt, aber wo ich den Resonanzbegriff herhabe, ist gar nicht so leicht zu sagen – möglicherweise habe ich ihn von Joachim Bauer aus seinem Buch Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. Mit Bauer habe ich mich später geeinigt, dass wir den Begriff unabhängig voneinander gefunden haben.

Der Begriff der Resonanz erschien jedenfalls geeignet, auch weil die musikalische Dimension in diesem Begriff anklingt.

EK | Wie kommt es, dass Sie eine Nähe zum Musikalischen haben?

HR | Ich habe lange in einer Band gespielt, spiele Kirchenorgel und Klavier. Es ist eine zentrale Resonanzerfahrung, Musik zu hören und hervorzubringen. Ich habe ganz oft gedacht, auch als Jugendlicher: »Musik hat mich gerettet!« Ich habe den Verdacht, diese Erfahrung geht im Spotify-Zeitalter mit den Playlists verloren und das empört mich. Schon lange bevor ich eine Resonanztheorie hatte, habe ich gedacht, Musik ist eine Art Nabelschnur zum Leben, da habe ich mich verbunden gefühlt.

EK | Wie würde sich die Pädagogik verändern, wenn man ihr den Resonanzbegriff zugrunde legt? Worauf würde das Lernen abzielen?

HR | In der Bildungsdiskussion der letzten Jahre ging es vor allem um den Kompetenzbegriff. Bildung bedeutet Erwerben von Skills, von Fähigkeiten, mit der Welt umzugehen und solche Sachen. Ich glaube, dass eine Erklärung für diese Kompetenz-Besessenheit über die Logik der Verfügbarmachung geht. Da entstehen Parameter wie bei Pisa: Ich kann die Fähigkeiten messen und vergleichen: Wie gut sind Schüler in mathematischen oder anderen Fähigkeiten? Diese können dann systematisch trainiert und optimiert werden und man kann an diesen Schrauben drehen, um bessere Ergebnisse bekommen. Das ist eine bestimmte Logik, die in ein Weltbild passt, in dem es um Verfügbarkeit und Konkurrenz geht.

Meiner Meinung nach zielt das auf ein Verdinglichen des Weltverhältnisses. Ich unterscheide zwischen »aneignen« und »anverwandeln«. Aneignen heißt: Ich eigne mir eine Fähigkeit, ein Wissen an, das ich abrufen oder in der Klausur testen und in Pisa vergleichen kann. Aber damit wird, was Bildung eigentlich ausmacht, komplett unterlaufen.

Ich glaube, dass Bildung eigentlich die Aufgabe hat, jungen Menschen die Resonanzachsen zu den Sinnprovinzen des Lebens zu öffnen. Das kann in den unterschiedlichsten Unterrichtsfächern stattfinden. Für mich war zum Beispiel Hesse jemand, der zu mir gesprochen und mich verwandelt hat. Bei Gedichten lässt sich das am schönsten sehen. Ich kann mir Kompetenzen erwerben: das Versmaß, den Rhythmus oder das Reimschema identifizieren. Aber dass da ein Rilke-Gedicht zu mir spricht und ich merke, da steckt etwas drin für mich, das ist das Entscheidende! Diese Art von Bildungserlebnissen eröffnet eine Resonanzachse. Jedes Fach kann so gesehen zu einer Sinnprovinz des Lebens werden, also »sprechen« oder auf Kompetenzerwerb reduziert werden und »verstummen«.

Ich bin nicht gegen Kompetenzen, aber es werden bessere erworben, wenn zuerst Resonanzachsen ausgebildet worden sind. Wenn ich hingegen den Kompetenzerwerb für das Zentrum des Bildungsgeschehens halte, habe ich von Bildung nichts begriffen.

EK | Zu welchem Menschenbild führt der Resonanzbegriff?

HR | Der Mensch ist ein Resonanzwesen. Ich würde das genauso formulieren wollen, weil es seit der griechischen Antike verschiedene Antworten dazu gab: Der Mensch als ein Sprach-, ein Vernunft- oder ein Besitzwesen.

Ich glaube, wir sind schon als Embryos Resonanzwesen und werden durch Resonanz zu Subjekten, die etwas suchen, Fragen stellen, menschliche Beziehungen eingehen, aber wir können falsche Strategien einsetzen, den Wesenszug durch Bildung verschütten. Die Gesellschaft hat sich da, glaube ich, verrannt.

EK | Welche Entfaltungsräume im Bildungswesen machen Resonanz möglich, welche verhindern sie?

HR | Resonanz ist für mich per se unverfügbar, d.h. sie lässt sich nicht einfach herstellen. Aber ich kann Bedingungen schaffen, die sie wahrscheinlicher machen. Entscheidend sind räumliche und zeitliche Bedingungen. Zeitdruck, Konkurrenz, alles, was Angst macht, verhindert Resonanz. Natur und Vertrauen hingegen fördert sie und ernährt uns.

Es kommt auch darauf an, welche Form von Beziehung will ich eigentlich zwischen Schüler und Bildungsgegenstand? Geht es um eine Erkenntnis-, Beherrschungs-, oder eine Resonanzbeziehung?

Das gängige Verständnis von Wissensvermittlung basiert auf Nüchternheit, Distanz und Kälte und zielt nur auf das Demonstrieren von Zusammenhängen. Ob der Schüler das gut oder schlecht findet, spielt keine Rolle, das stört. Affizierung wird als Problem begriffen.

Noch problematischer aber ist die Dreiteilung des Schulsystems und die Noten, die die Selbstwirksamkeit der Schüler, die sich auf den Lernprozess bezieht, untergraben. Ich habe den Eindruck, das Bildungssystem in Deutschland erzeugt Bildungsverlierer, die nicht die Erfahrung gemacht haben, das die Sinnprovinzen des Lebens »sprechen« können. Bildungsverlierer sind diejenigen, die sagen: »Literatur bringt mir gar nichts und ist nichts für mich!« Den Verlierern wurden die Resonanzachsen verschlossen, es sind die, die null Bock haben auf alles, was potenziell interessant ist. Ich bin nicht gegen Differenzierung oder Vertiefung. Wer aber bei Schülern und Kindern die Selbstwirksamkeit zerstört, der zerstört im Prinzip die Resonanzfähigkeit und macht sich eigentlich eines Verbrechens schuldig.

EK | Sie beschreiben Corona als das »Monster der Unverfügbarkeit« – wir können plötzlich nicht mehr auf gewohnte Lebensumstände zurückgreifen. Was können Schüler, Eltern und Lehrer tun, um mit diesem »Monster« umzugehen?

HR | Es gibt gesellschaftliche Tendenzen, absolute Verfügbarkeit und Kontrolle herzustellen, so soll beispielsweise um jeden Preis verhindert werden, dass Datenmissbrauch stattfindet. Etwas ähnliches kann man beobachten, wenn man – durchaus nachvollziehbar – um jeden Preis verhindern möchte, dass sich Menschen infizieren. Wenn jetzt zum Beispiel Jugendliche etwas unternehmen wollen, taucht sofort eine Reihe von Fragen auf: Wer übernimmt die rechtliche Verantwortung? Wer finanziert das Ganze? Wie sieht es mit dem Datenschutz aus? Wenn sie alles kontrollieren und alle Gefahren ausschließen wollen, ist jedes gemeinschaftliche Projekt tot.

Wir müssen als Gesellschaft lernen, mehr Unverfügbarkeit zuzulassen. Mein Buch Unverfügbarkeit endet sehr pessimistisch, weil ich auf dieses Problem (noch) keine Antwort habe.

Das Interview führte Matthias Niedermann