Es ist möglich

Henning Köhler

Als er am 6. Dezember 2018 spürte, dass es Zeit wurde, Abschied zu nehmen, bot ihm die Arztvisite Gelegenheit, der versammelten Crew eine Rede zu halten. Sie begann mit den Worten: »Ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.« Ärzte und Pfleger staunten nicht schlecht, als ihr sterbenskranker Patient anhub: »Es ist möglich, dass Menschen ohne hierarchische Strukturen zusammenleben, auf gleicher Ebene kooperieren und Lösungen für ihre Probleme finden.« Worauf der Chefarzt – etwas indigniert, nehme ich an – fragte: »Aha, und wie können wir dahin gelangen?« Nun begann Gebauer über freie Schulen zu sprechen. Schulen, wo »den Kindern niemand (etwas) befiehlt«; wo sie »selbst entscheiden, sich gegenseitig helfen und von den Lehrern nicht bestraft oder zu etwas gezwungen werden, (sondern) Hilfe, Zustimmung und Freundschaft« erhalten. Aus solchen Schulen würden Menschen hervorgehen, »die keine Regierung brauchen«. Gebauer habe die Faust gehoben und gestrahlt, berichtet eine Krankenschwester. »Es ist möglich!«, rief er aus.

Sein Vorbild war der einst weithin geachtete, heute fast vergessene, 1909 unschuldig hingerichtete spanische Anarchist und Schulreformer Francisco Ferrer i Guardia (1859-1909), Gründer der Escuela Moderna, eines Schultyps mit den Grundsätzen Koedukation, Förderung der Spielfreude, Stärkung des Mitgefühls, gegenseitige Hilfe, Gewaltlosigkeit, Abschaffung von Strafen, Noten, Prüfungen.

Menschen, die sich, wie Gebauer, weigern, ihren Glauben an das sozial Schöne auf dem Altar der instrumentellen Vernunft zu opfern, sind rar geworden. Tags darauf stieß ich auf eine Reportage ganz anderer Art. Sie handelt von 16 Schülern des Unterhachinger Lise-Meitner-Gymnasiums, denen eine Hochbegabung attestiert wurde, weshalb es opportun erschien, sie auszusondern und in ihre Förderung »mehr Geld und mehr Aufmerksamkeit« zu investieren, als die restlichen Kinder beanspruchen können.

Ich enthalte mich hier eines Grundsatzurteils über Hochbegabtenförderung, doch verglichen mit den Visionen eines Schulwesens ohne Leistungsdruck und ohne hierarchische Strukturen, wo man von der vertikalen zur horizontalen Differenzierung übergehen und kopfschüttelnd auf das »Casting«-Prinzip vergangener Zeiten zurückblicken würde, hat diese Reportage etwas Beklemmendes. Sie zeigt, wie stark unser Bildungssystem, ja unsere ganze Gesellschaft auf dem Konkurrenzprinzip basiert und wie sehr wir dazu neigen, Menschen in Güteklassen einzuteilen.

Die Kinder sind »immer auf Wettbewerb«, wird eine Lehrerin jener Eliteklasse zitiert. Es klingt im Kontext fast bewundernd. Eine Schule erfüllt ihre Aufgabe umso besser, je deutlicher die Kinder spüren: Wir sind hier nicht auf Wettbewerb. An Waldorfschulen wird dafür einiges getan. Aber ist es schon genug?

Literatur: Von der Geologie zur Anarchie. Zum Gedenken an Dieter Gebauer, graswurzelrevolution Februar 2019 | F. Ferrer: Die moderne Schule, hrsg. v. U. Klemm, Frankfurt 2003 | P. Munzinger: Eine Klasse für sich, Süddeutsche Zeitung, 25.2.2019