Es ist Zeit für staatlich anerkannte Waldorfabschlüsse

Frank de Vries

Zur Grundidee der ersten Waldorfschule in Stuttgart vor fast hundert Jahren äußerte sich Rudolf Steiner in einem öffentlichen Vortrag am 24. August 1919: »Diese Waldorfschule kann selbstverständlich nur dann gelingen, wenn sie ganz durchdrungen ist von dem Geiste, aus dem heraus die Dreigliederung des sozialen Organismus erstrebt wird«.

Nach der Katastrophe des ersten Weltkriegs entwickelt Steiner mit der Dreigliederung des sozialen Organismus die Grundstruktur einer Gesellschaft, in der sich die drei Bereiche des sozialen Lebens: Kultur, Recht und Wirtschaft selbst verwalten und relativ autonom eigenen Funktionsprinzipien folgen. Das Wirtschaftsleben entfaltet sich auf der Grundlage des nutzbaren Bodens im Kreislauf der Warenherstellung (Produktion), des Vertriebs (Handel) und des Verbrauchs (Konsum). Es soll nach dem Prinzip der Brüderlichkeit durch Assoziationen geregelt werden. Das Rechtsleben umfasst alle Rechtsordnungen und das Verwaltungsrecht und regelt das Verhältnis von Mensch zu Mensch nach dem Prinzip der Gleichheit in für alle geltenden Gesetzen. Das auf Freiheit gegründete kulturelle Leben wird nicht staatlich reglementiert und umfasst das gesamte Bildungswesen, Kunst und Religion.

Der Waldorflehrplan für Kopf, Herz und Hand in Verbindung mit Wissenschaft, Kunst und Handwerk dient der freien Entfaltung der Persönlichkeit und kann nicht durch eine normative Pädagogik und ein staatliches Berechtigungswesen erfüllt werden. Es ist den Waldorfschulen in den letzten hundert Jahren gelungen, diesen Freiraum für ihren eigenen pädagogischen Ansatz nach den Gesichtspunkten der Menschenkunde zu gewinnen und zu wahren. Allerdings wird dieser Freiraum bei den Abschlüssen durch Eingriffe des Staates unzulässig eingeschränkt. Durch die staatlichen Abschlüsse wird der Lehrplan der Waldorfschulen massiv beeinträchtigt und die Freiheit der Unterrichtsgestaltung beschnitten.

Gleichberechtigung für Waldorfabschluss

Schon 2004 gibt ein Rechtsgutachten von Bodo Pieroth konkrete Hinweise auf eine Ungleichbehandlung der Waldorfschulen bei der Vergabe der Hochschulreife und der Anerkennung der Abschlüsse im Vergleich der EU-Länder. Im Rahmen der EU-Vereinbarung zur Freizügigkeit sollte die Gleichberechtigung der Schulabschlüsse in allen EU-Ländern gelten. Pieroth: »Je mehr europäische Staaten den derzeitigen sogenannten Waldorfabschluss als Hochschul­-zugangsberechtigung anerkennen und je mehr Inhaber solcher ausländischen Waldorfabschlüsse gestützt auf die Europäische Konvention über die Gleichwertigkeit der Reifezeugnisse und den EG-Vertrag in Deutschland ein Hochschulstudium beginnen, desto fraglicher wird die Recht­fertigung der Ungleichbehandlung zwischen in- und ausländischen sogenannten Waldorfabschlüssen. Sollten die deutschen Landesschulgesetzgeber auf ihren spezifischen Bildungsvorstellungen bei fortschreitender Entwicklung internationaler Bildungsstandards verharren, könnte dies zu einer Verletzung der Freien Waldorfschulen in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG führen« (Pieroth 2004).

Auch Johannes Rux und Norbert Niehues geben in ihrem Standardwerk »Schulrecht« (2013) entsprechende Hinweise: »Konkrete Bedeutung hat dies etwa für die Waldorfschulen, die aufgrund ihres pädagogischen Konzeptes nur bedingt in der Lage sind, die Besonderheiten der gymnasialen Oberstufe nachzubilden, aber unter Umständen eine Qualifikation vermitteln, die mit dem Abitur an einer öffentlichen Schule durchaus vergleichbar ist. Es wäre durchaus denkbar, dass sich die Waldorfschulen auf ein einheitliches Prüfungsverfahren einigen; dann könnten sie das Abitur unabhängig von den in den meisten Ländern vorgesehenen zentralen Abschlussprüfungen vergeben« (Rux/Niehues 2013 N 1237).

Abschlussportfolio als Fachabitur

Die Waldorfschulen verfügen über einen staatlich anerkannten Lehrplan von der 1. bis zur 13. Klasse. Da nicht alle Schüler die Hochschulreife erlangen, muss am Ende der 12. Klasse auch ein anerkannter und vergleichbarer Schulabschluss zur Verfügung stehen, der über die mittlere Reife hinausgeht, die eigentlich den Schulabschluss nach Klasse 10 darstellt und die Qualifikation eines Waldorfschülers nach Klasse 12 nicht angemessen wiedergibt. Nach dem Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) und dem Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) würde zum Beispiel das Abschlussportfolio der Waldorfschulen die Kriterien der Fachhochschulreife erfüllen. Mit einem solchen vergleichbaren Fachabitur nach Klasse 12 würde die Trennung zwischen Berufs- und Allgemeinbildung und die Gefahr einer einseitigen Ausrichtung unserer Oberstufe auf das Abitur (gymnasiale Oberstufe) aufgehoben werden. Wenn wir nachweisen könnten, dass in der Waldorfschule mit ihrem eigenen Lehrplan vergleichbare Kompetenzen wie in der Regelschule erworben werden können, bestünde kein Grund, den Waldorfschulen äquivalente Abschlüsse zu verweigern. Wenn die Schüler insbesondere auch zu den kognitiven Fächern oder Fachbereichen Kompetenznachweise erhielten, bestünde die Möglichkeit, über einen Abgleich des Kompetenzlehrplans der Bundesländer mit den vom Schüler erreichten Kompetenzen zum Beispiel die Fachhochschulreife zu erzielen. Dabei sind die drei Säulen der Waldorfpädagogik, das kognitive, künstlerische und praktisch-berufliche Lernen, Grundlage für einen vergleichbaren Schulabschluss. Wichtig ist, dass wir bei der Anerkennung eines eigenen Waldorfabschlusses nach Klasse 12 nicht irgendwelche Gesetzeslücken nutzen, sondern selbstbewusst einen eigenen Waldorfabschluss bildungspolitisch neu verhandeln und Steiners Forderung nach Freiheit im Geistesleben umsetzen: »Dieser Einfluss der Lehrerschaft auf die Schulgesetzgebung wird ganz gewiss am allergrößten dann sein, wenn die Lehrer selbst diese Schulgesetze machen in dem selbstverwalteten Geistesleben im Sinne des dreigliedrigen sozialen Organismus« (Steiner, 24.8.1919).

Es ist an der Zeit, dass wir mit einer neuen Bildungsoffensive den Übergang in den Beruf und ins Studium neu gestalten und prüfen, welche Zugänge zu den Hochschulen und Universitäten möglich sind und in welchem Rahmen ein eigener Waldorfabschluss nach Klasse 12 anerkannt werden kann.

Zum Autor: Frank de Vries hat über 38 Jahre die Fächer Deutsch, Geschichte, Kunstgeschichte, Religion und Philosophie in der Oberstufe der Rudolf Steiner Schule in Bochum unterrichtet und als Klassenbetreuer sieben Mal eine Klasse durch die Oberstufe geführt. Er ist Leiter des Abschlussportfolioprojektes der Waldorfschulen in Deutschland.

Literatur: Handbuch zum Deutschen Qualifikationsrahmen Struktur – Zuordnungen – Verfahren – Zuständigkeiten, Herausgeber: Bund-Länder-Koordinierungsstelle für den Deutschen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen | B. Pieroth: Rechtsgutachten zu den Anforderungen an den Hochschulzugang von Waldorfschülern im Lichte von Art. 7 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 1 GG dem Bund der Freien Waldorfschulen e.V., Münster 2004 | J. Rux, N. Niehues: Schulrecht, München 2013 | R. Steiner: Die Waldorfschule und ihr Geist, Welche Gesichtspunkte liegen der Errichtung der Waldorfschule zugrunde?, Stuttgart 1956 | F. de Vries: Kompetenznachweis und Lernbegleitung in Waldorfschulen, Stuttgart 2011