Es könnte eine werden. Eine Waldorfschul-Initiative in Marrakesch

Am Rande von Marrakesch sitze ich im Innenhof von Sophies Häuschen, den größtenteils Bäume voller Orangen und Zitronen ausfüllen. Lila und Ava, die zweieinhalbjährigen Zwillinge spielen und klettern ab und zu an ihrer Mutter hoch. Sophie Dielissen ist Holländerin, Ex-Waldorfschülerin und hat jahrelang mit ihrem marokkanischen Mann in Genf gelebt. Dort arbeitete sie als selbstständige Anlageberaterin und jettete ständig durch die Welt. Nach einem Burnout verkaufte sie die Firma und zog mit ihrer Familie im Sommer 2015 nach Marokko.

Isabella Geier | Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Gedanke, in Marrakesch eine Schule zu gründen?

Sophie Dielissen | Als wir hierherkamen, um den Kindern die Kultur des Vaters nahezubringen und intensiver als Familie zusammen zu sein, merkten wir sehr bald, dass die schulische Situation für unsere drei Söhne sehr schwierig war. Da sie kein Hocharabisch sprachen und auch die Schrift nicht beherrschten, kam eine marokkanische Schule eigentlich nicht in Frage, und die französischen Schulen sind reine Elite-Schulen – so etwas wollten wir auch nicht. Also unterrichtete ich die Kinder zu Hause selbst. Irgendwann fing ich dann an, über die Gründung einer eigenen Schule nachzudenken.

IG | Was waren die ersten Schritte?

SD | Ich sprach mit vielen Rückkehrer-Familien in unserem Bekanntenkreis und stellte fest, dass alle das gleiche Problem mit ihren Kindern hatten. Also konnte man es vielleicht auch gemeinsam lösen – durch die Gründung einer eigenen Schule. Viele ermutigten mich und sagten ihre Unterstützung zu. Darum machte ich das, was ich gut konnte – ich erstellte einen Geschäftsplan. Aber dann wurde mir klar, wie wenig damit gewonnen war und zerriss ihn wieder. Viel wichtiger war eine konkrete Vision. Und je länger ich über eine solche nachdachte, umso stärker lebten die Erinnerungen an meine eigene Schulzeit wieder in mir auf und ich wusste: wenn schon, dann wollte ich eine Waldorfschule. Aber wie? Und wo? Ich fing an, mein altes holländisches Netzwerk zu reaktivieren und bat überall um Rat und um Unterstützung. Das Echo war eher verhalten. Außerdem kündigten sich Ava und Lila an, was mich zusätzlich zögern ließ. Da fiel uns wie vom Himmel eine Marokkanerin zu, die an der Uni Marrakesch ihren Doktor in Erziehungs­wissenschaften über Rudolf Steiner machte und Waldorfbegeisterung versprühte. Sie versprach, Lehrer zu finden, sie auszubilden und zu betreuen und vieles mehr. Mit Imanes Auftauchen erschien die Sache plötzlich realistisch und ich entschied, die Schulgründung zu wagen. Während Imane sich um das Finden von Lehrern kümmerte, suchte ich ein Gebäude.

IG | Sie ganz allein mit Imane?

SD | Nein, da gab es natürlich noch die interessierten Familien. Mit neun Leuten haben wir einen Trägerverein gegründet. Aber wenn ich gewusst hätte, wie die maro­kkanischen Mühlen mahlen – exakt 32 Mal mussten wir geschlossen bei der zuständigen Behörde antreten und jedes Mal gab es wieder eine neue, unerwartete Hürde. Einmal hat mich die Verzweiflung derart gepackt, dass ich an Ort und Stelle losheulte. Der Beamte blieb ungerührt. Der einzig mögliche Vereinszweck zur Gründung einer Schule war übrigens die Beschulung von Kindern aus Rückkehrer-Familien. Darum ist unsere Unterrichtssprache auch Französisch, zum Teil auch Englisch. Genau eine Woche vor Eröffnung der Schule war dann schließlich alles in trockenen Tüchern.

IG | Und welche Rolle spielte Ihr Mann?

SD | Dem war das marokkanische Abenteuer nach einem halben Jahr zu unsicher geworden, darum war er nach Genf zu seiner sicheren Arbeitsstelle zurückgekehrt, um uns alle gut versorgen zu können. Er kommt so oft es geht und hält mir dann komplett den Rücken frei.

IG | Wie war das nun mit dem Schulgebäude?

SD | Katastrophe! Nachdem ich tausend Objekte angeschaut hatte, die entweder viel zu teuer oder völlig ungeeignet waren, zeigte mir Leila, die von Anfang an mit dabei war und eine sehr treue Seele ist, und die Waldorf durch ihre angeheiratete Tante, eine deutsche Waldorflehrerin, kennen- und schätzen gelernt hatte, eine kleine Farm ihres Mannes, die vielleicht in Frage käme. Ein Blick genügte, mich vom Gegenteil zu überzeugen: Das Gebäude war in einem furchtbaren Zustand. Aber mein Sohn konnte im Gegensatz zu mir über die Baufälligkeit hinwegsehen und sich das Schulleben auf dem Gelände lebhaft vorstellen. Begeistert zeigte er mir lauter Möglichkeiten auf, die die Örtlichkeiten boten. Und irgendwie sprang der Funke über. Ich sagte ja. Aber wieder gab es eine endlose Odyssee. Im April 2017 erst, also fünf Monate vor der vorgesehenen Eröffnung, waren alle rechtlichen Fragen geklärt. Jetzt erst konnte mit der Renovierung begonnen werden. Im Ramadan mussten wir den Arbeitern den doppelten Lohn bezahlen, damit es voranging. Es war die reinste Zitterpartie.

IG | Wie haben Sie die Renovierung finanziert?

SD | Von dem Verkaufserlös meiner Firma.

IG | Und die Lehrer?

SD | Das nächste Riesenproblem! Die externen Bewerber konnte man nicht nehmen. Meine Hoffnung auf verrentete europäische Waldorflehrer hat sich leider auch zerschlagen. Letztlich sind alle Lehrer über persönliche Empfehlungen des Netzwerks bei uns gelandet. Und als es an die Schulung ging, war Imane plötzlich wegen angeblich unaufschiebbarer Familienangelegenheiten verschwunden. Für immer. Ein Flop.

IG | Das heißt, Sie haben die Lehrer dann selbst vorbereitet?

SD | Musste ich wohl. Zwei Wochen lang. Zwei Lehrer waren ja in Ihren Workshops in Fès und Lakhssas. Mit den anderen habe ich wichtige Passagen aus Steiners pädagogischen Schriften durchgearbeitet.

IG | Was waren Ihre Einstellungskriterien?

SD | Offenheit für Neues, die Bereitschaft, die Komfort-Zone zu verlassen und sich zu engagieren, Kompetenzen, Erfahrung, Persönlichkeit. Waldorf konnte ich nicht voraussetzen.

IG |  Mit wie vielen Schülern und Lehrern haben Sie dann im September 2017 angefangen?

SD | Mit 49 Kindern und 11 Lehrern und Erziehern, die aber zum Teil nur stundenweise engagiert waren. Es gab viele Anmeldungen, aber ich war da recht strikt. Wichtig war mir, dass es mit Schülern und Eltern auch wirklich funktioniert. Jetzt im zweiten Schuljahr haben wir 71 Kinder in Kindergarten und Schule. Wir haben viele Anmeldungen, aber ich bin noch vorsichtig.

IG | Was tun Sie, damit die Einrichtung sich Waldorf immer mehr annähert?

SD | Ganz wichtig sind die Konferenzen. Dann arrangiere ich Fortbildungen mit erfahrenen Lehrern und Kindergärtnern aus Europa – wie jetzt mit Ihnen. Die Aus- und Weiterbildung ist eine meiner größten Herausforderungen hier. Und wenn dann jemand wegzieht oder schwanger wird, dann ist das eine Katastrophe und man muss von Null anfangen. Typische Waldorfmaterialien zu bekommen, ist das nächste Problem. Aber auch die etwas andere Auffassung von Verbindlichkeit und Pünktlichkeit. Das ist manchmal ganz schön schwierig. Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, dass unsere Schüler formal ans französische Schulsystem angegliedert sind.

Wir sind zwar in unserem Lehrplan frei, aber die Schüler erhalten nur dann irgendeinen Abschluss, wenn sie sich über das französische Konsulat registrieren lassen. Sie müssen dann regelmäßig Tests absolvieren, die in Frankreich korrigiert werden. Das ist natürlich eine ziemliche Einschränkung. Und dann ist da noch der ständige Kampf mit den Finanzen.

IG | Wie ich das sehe, sind Sie in Personalunion Vorstand, Hausmeisterin, Geschäftsführerin, Zuständige für Öffentlichkeitsarbeit, Personalfragen, Stundenplan, Vertretungen – die Sie auch oft selbst übernehmen –, Sozialarbeiterin, Ausbilderin, Coach, Mediatorin, Streitschlichterin – wie geht das? Woher nehmen Sie die Kraft für das alles?

SD |  Das zehrt an der Substanz. Mein größter Wunsch ist tatsächlich, dass sich die Aufgaben auf mehr Schultern verteilen. Und so langsam fangen einige aus dem Kollegium tatsächlich an, initiativer zu werden und sich um bestimmte Bereiche selbstständig zu kümmern. Auch die Eltern engagieren sich zunehmend. Jetzt hat eine Gruppe Geld gesammelt, zwei LKW-Ladungen Teer erworben und eine Straßenwalze ausgeliehen. In den Ferien, also nächste Woche, werden sie den Weg von der Straße bis zur Schule gemeinsam teeren. Zum Glück kann ich auch sehr auf meine Familie zählen. Es ist rührend, wie sich die großen Zwillinge um die kleinen Zwillinge kümmern. Aber am meisten Kraft ziehe ich aus der Freude, die mir jeden Tag von den Kindern und von den Kollegen entgegenkommt. Daraus schließe ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

IG | Was ich auf jeden Fall sagen kann, ist, dass ich noch nie eine Schule erlebt habe, in der Schüler und Eltern nach Unterrichtsschluss noch ewig dableiben und einfach nicht nach Hause gehen wollen. Als ich gestern um 17.30 Uhr durch die Klassen ging, saß in der 6. Klasse noch ein Junge und malte. Als ich ihn auf die Uhrzeit ansprach, sagte er: Ich bin halt sehr, sehr gern hier. Es ist Ihnen also auf jeden Fall gelungen, einen Lebensraum zu schaffen, der von Kindern und Eltern dankbar angenommen und ausgefüllt wird. Es bleibt mir also vorerst nur noch, Ihnen und Ihrer Schule für die Zukunft alles nur erdenklich Gute zu wünschen und französisch sprechende Leser mit Waldorferfahrung einzuladen, Ihnen hier in Marrakesch mit Material und Seminaren im Gepäck einen Besuch abzustatten.