Singen in der Waldorfschule in Zeiten von Corona

Solveig Jungclaussen

Die Transfer-Wirkungen von Musik im Allgemeinen werden immer wieder erforscht und hinterfragt. Sicher ist, dass gemeinsames Singen positive Auswirkungen auf uns hat, sei es emotional oder auch gesundheitlich. Nicht umsonst ist es auch eine Form der Therapie. Singen stärkt das Gruppengefüge, lehrt indirekt sozialen Umgang und macht uns achtsamer. An der Waldorfschule suchte man von Beginn an nach neuen Wegen des gemeinsamen Singens. Paul Baumann, der erste Waldorfmusiklehrer, begann die Suche nach Liedern und Momenten, die den Schülern ein Eintauchen in die Musik fernab von Mainstream-Klängen und gesellschaftlichen Konventionen ermöglichen.

Neben den Musikstunden prägt besonders der Klassenlehrer das Liedrepertoire der Schüler. Lieder sind fester Bestandteil eines Hauptunterrichts. Häufig begleiten sie die morgendlichen Rituale. Sie führen die Schüler durch die Jahreszeiten, bringen die Klasse zur Ruhe oder beleben sie. Darüber hinaus spielen Lieder in den verschiedensten Fächern eine Rolle: In den Fremdsprachen taucht man über Lieder in die andere Sprache ein, im Spielturnen werden Reigen gesungen, im Handarbeitsunterricht wird ein Begrüßungslied angestimmt. Während die Schüler in den unteren Klassen einstimmig singen und in die Klangwelt der Pentatonik eintauchen, erleben sie in der Mittelstufe die Vielfalt der Musik auf der ganzen Welt und den Reichtum mehrstimmiger, polyphoner Stücke.

In der ersten und zweiten Klasse bilden Melodie, Rhythmus und Text eine Einheit. Das Lied vermittelt eine Stimmung und oft eine Geschichte. Die Schüler lernen die Lieder meist sehr rasch und können sich als Gruppe viele Strophen in kurzer Zeit merken. Dabei geht es nicht um subjektive Gefühle, sondern um ein Bestaunen und Kennenlernen der Welt durch Klänge. So bekommt das Kind die Möglichkeit, in einen musikalischen Strom einzutauchen. Die Musik ist noch nicht persönlich, sondern eher ein schwebender Zustand. Aus diesem Grund sind viele Lieder für die ersten beiden Klassen noch nicht an ein tonales System gebunden. Um die Zeit des Rubikon in der dritten Klasse erleben die Schüler eine neue Wachheit, sie entdecken sich als Individuum in der Welt. Die Melodien, die die Kinder nun begleiten, stehen für sich, sie bedürfen keiner Harmonien. Es gibt nun – der kindlichen Entwicklung gemäß – auch musikalisch ein Innen und Außen. Wir treten durch »Ich-und-Du-Mehrstimmigkeit« in musikalische Dialoge. Dabei ist die zweite Stimme nicht der Melodie untergeordnet, sondern ebenso eigenständig. Die Lieder schaffen in der Unterstufe bestenfalls Räume, in denen die Kinder Kind sein dürfen. Dabei geht es um Raum für Erlebnisse, Klänge, Farben und die Phantasie.

In der fünften Klasse, in der die Schüler stimmlich meist sehr wendig sind, lernen sie Dur und Moll kennen. Dies geht mit der geschichtlichen Entwicklung der Musik einher: Während uns aus der Gregorianik schwebende, silbrige und unpersönliche Klänge vertraut sind, prägt die Renaissance- und Barockmusik der Wechsel zwischen Dur und Moll. Die Musik wird dadurch zu einem tief persönlichen Erlebnis. In dunklen Klängen, die beispielsweise die Abenddämmerung beschreiben, finde ich meine Einsamkeit wieder und in tänzerischen Stücken meinen Übermut. Dies setzt sich in der Pubertät in verstärkter Weise fort: Die Musik wird Ausdruck meiner persönlichen Empfindung. In der sechsten Klasse steht das Entdecken anderer Kulturen im Vordergrund. Auch musikalisch machen wir uns nun auf die Reise und erleben den Reichtum der Klänge aus aller Welt. Nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich wird die Vielfalt der Musik erlebbar.

Romantische Balladen und große Werke der Musikgeschichte lassen die Schüler der siebten und achten Klasse (auch in Chor und Orchester) in tiefe Emotionen eintauchen. In der Oberstufe steht ebenfalls die Vielfalt der Musik im Zentrum. Der Musikunterricht erkundet die verschiedenen Subgenres der Pop- und Rockmusik ebenso wie klassische Werke und Neue Musik.

Corona macht alles anders

Auf YouTube findet man eine Aufnahme von Sängern, die mit großem Abstand voneinander in die Kamera singen: »Chor ist lebensgefährlich« (YouTube). Wir stehen vor der absurden Situation, dass das eigentlich heilende, gemeinsame Singen als »lebensgefährlich« bewertet wird, da Covid-19-Viren über Aerosole übertragen werden können. Chöre pausieren seit Monaten oder versuchen, digital zu proben. Dabei mag man den einen oder anderen Ton richtigstellen können, doch das, was mich wöchentlich gern zum Chor gehen lässt, finde ich dort nicht.

Es stellt sich also unweigerlich die Frage: Was nun?

In einigen Bundesländern ist das Singen in der Schule mit entsprechenden Hygiene-Konzepten (vor allem genügend Abstand und Frischluft) erlaubt, in anderen ist es bislang verboten. Es ist kaum absehbar, wie die Corona-Maßnahmen, unsere Gesellschaft und unsere Traditionen in der kommenden Zeit verändern werden. Auch wenn es erlaubt ist, stellt sich die Frage, wie Schulen die Umsetzung der Hygienekonzepte für das Singen organisatorisch bewältigen sollen.

Ein auf der Hand liegender Kompromiss ist das Summen. Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass auf die Stimme gedrückt wird, um mehr Klang hervorzubringen. Es ist sicherlich gut, hin und wieder zu summen und die Singstimme so weiterhin zum Klingen zu bringen, es sollte aber nicht zu lange andauern, da es für die Stimme schnell anstrengend werden kann.

Wenn das Singen mit Hygienekonzept erlaubt ist, dann ist es einiges an Aufwand wert, dies zu ermöglichen. Während des Lockdowns konnten Schülergruppen allenfalls digital zusammenkommen. Es wird also eine der großen Aufgaben sein, Gruppen wieder zu vereinen. Je tiefer man in das Musizieren eintaucht, desto schneller sind die ungewöhnlichen Bedingungen vergessen. Für das Singen spricht auch seine stärkende Wirkung. Der Covid-19-Virus greift unser Atemsystem an. Beim Gesang lernen wir, den Atem zu führen und trainieren unser Atemsystem. Der Gesang stellt also, wenn die Gefahr einer Corona-Infektion durch den nötigen Mindestabstand und Frischluftzufuhr minimiert wird, eine Chance dar: Wir bringen eine Gruppe, die durch den Lockdown vielleicht vereinzelt wurde, in Einklang und stärken den Atem und das Immunsystem.

»Hörwege«

So viel Störendes an den Verboten und Maßnahmen sein mag, wir sollten neben der reduzierten Ansteckungsgefahr weitere positive Seiten sehen: Wir bekommen vor Augen geführt, wie wichtig das gemeinsame Musizieren ist und wie sehr es vielen von uns fehlt. In der Schule passiert es schnell, dass ein Lied mal eben hastig durchgesungen wird, um danach zu Wichtigerem überzugehen. Nun kommen wir vielleicht dazu, dem Singen an so mancher Stelle wieder mehr Zeit zu schenken. Wir versuchen (vermutlich mit einigem Aufwand) Möglichkeiten einzurichten, gemeinsam mit großer Aufmerksamkeit füreinander und für die Musik zu singen. So ist der gemeinsame Gesang zwar nicht mehr Begleitung des Aufräumens, aber er stellt möglicherweise kostbare Minuten im Unterrichtsgeschehen für Schüler und Lehrer dar. Darüber hinaus schulen die erforderlichen Abstände unser Gehör und bringen uns dazu, noch genauer hinzuhören, was der nun weiter entfernte Nachbar singt.

Das Aufeinander-Hören ist ein zentraler Aspekt beim gemeinsamen Musizieren. Reinhild Brass begründete die »Audiopädie«, eine Hörschulung. Diese kann wohl keinen Ersatz, aber doch eine reichhaltige Alternative zum gemeinsamen Singen bieten. Reinhild Brass versucht, das Hören auf vielfältige Weise zu entdecken und die Ohren zu öffnen. In ihrem Buch »Hörwege entdecken« (Brass 2012) geht sie schrittweise durch die acht Schuljahre des Klassenlehrers und entwickelt Hör-Übungen mit Steinen und Hölzern, Klangstäben und Bewegung im Raum. Sie empfiehlt die Übungen für den Musikunterricht, viele lassen sich aber ebenso gut in den Hauptunterricht integrieren.

Doch ich möchte nicht nur die Klassenlehrer dazu ermutigen, sich an neue Wege des Singens und des Hören-Lernens heranzuwagen. Ein großer Schatz meiner eigenen musikalischen Ausbildung ist das tägliche »Abendstündchen« mit meiner Familie, das mich meine gesamte Kindheit über begleitet hat. Nach dem abendlichen Vorlesen haben wir gemeinsam mehrere Lieder gesungen, einstimmig und im Kanon. Neben einem reichen Liedrepertoire hat es mir Selbstvertrauen in Bezug auf meine Singstimme mitgegeben. Ich habe mich darin immer zu Hause gefühlt und bin davon überzeugt, dass unsere Familientradition einen großen Anteil daran hat.

Daher möchte ich Sie ermuntern: Singen Sie mit Ihren und mit anderen Kindern, wann immer Sie können und dürfen und entdecken Sie das Hören! Schaffen Sie Räume für Klänge, Erlebnisse und Phantasie!

Zur Autorin: Solveig Jungclaussen studierte Musik auf Lehramt und absolvierte einen postgradualen Waldorfmaster in Stuttgart. Sie ist Mitglied in verschiedenen Gesangsensembles und leitet einen Chor in Ulm.

Literatur: M. Spitzer: Musik im Kopf, Stuttgart 2002, S. 357 | YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=d8ta0J79gys (zuletzt 27.8.2020) | R. Brass, Reinhild: Hörwege entdecken. Musikunterricht als Audiopädie, Weilheim 2012