Eurythmie – von der Ich-AG zum Wir

Jürgen Frank

Auf die Frage, »Ihr geht auf eine Waldorfschule? Könnt Ihr auch Eure Namen tanzen?« antwortete eine Dreizehntklässlerin: »Ja natürlich können wir unsere Namen tanzen – uns vor allem aber in Bewegung ausdrücken. Das ist keineswegs das einzige, was wir in 13 Jahren Eurythmie-Unterricht gelernt haben. Wir haben auch gelernt, unsere Sehnsüchte, unseren Humor, unsere Trauer und unsere musikalischen und sprachlichen Empfindungen durch Bewegung auszudrücken«. Besser kann man eigentlich nicht fassen, was Eurythmie ist.

In der Werbung gab es vor kurzem einen Slogan, der den Zeitgeist auf den Punkt bringt: »Unterm Strich – zähl ICH«; als Ausdruck eines sozialen Standpunkts ein Gegenentwurf zu dem, was wir als Eurythmiepädagogen und Waldorf­lehrer bei den Schülern veranlagen wollen. Soziales Verhalten jedoch lässt sich nicht intellektuell vermitteln, benoten und in Abschlüsse fassen, es braucht für den einzelnen Menschen einen Übungsweg als Bestandteil des Unterrichts. Einer der wesentlichen Impulse Rudolf Steiners zielt auf eine Verbesserung des sozialen Miteinanders der Menschen und damit der Nationen untereinander. Diesen Impuls finden wir dargestellt in vielen öffentlichen Vorträgen, Schriften und Petitionen. Zeitgleich mit der Entstehung seiner sozialen Impulse entwickelte Steiner die Kunst der Eurythmie. In ihr eröffnet sich ein Übungsfeld, auf dem Menschen im Rahmen einer Kunst soziales Miteinander erlernen können.

Die Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart 1919 setzte einen Erneuerungsimpuls in der Bildung. Sie sollte nicht nur die Chancen der Arbeiterkinder verbessern, sondern auch Menschen befähigen, in ihrem späteren Leben in der Gesellschaft sozial kompetent zu handeln. Daher war es schlüssig, die Eurythmie als »soziale Kunst« fest in den Lehrplan der Waldorfschule aufzunehmen.

Viele Grundimpulse der pädagogischen Eurythmie haben sich nicht wesentlich verändert:

  • Gesunde Bewegungsentwicklung
  • Stärkung und Ausbildung des Willens
  • Unterstützung einer gesunden Entwicklung des Gefühls
  • Ästhetische Erziehung

Brauchen wir das eigentlich?

Die vielen Hinweise Steiners auf die Bedeutung einer gesunden Bewegungsentwicklung für die Ausbildung des Denkens werden durch die heutige Hirnforschung bestätigt. Bewegung aktiviert geistige Fähigkeiten. Bewegung bewegt auch das neuronale Netzwerk. Bewegen bildet das Denken aus. Die durch Urbanisierung, Mediatisierung und Verhäuslichung veränderte Lebens- und Bewegungswelt der Kinder führt dazu, dass in Kindergarten und Schule das nachgearbeitet werden muss, was in der frühen Kindheit versäumt wurde. Aus meinen Erfahrungen als Aufnahmelehrer weiß ich, dass mindestens ein Drittel der vorgestellten Kinder kurz vor der Einschulung deutliche Defizite in der Bewegungsentwicklung hat. Der auf Nachahmung aufgebaute Unterstufenunterricht setzt stark auf die Fähigkeit, Bewegungen (auch Denkbe­wegungen) nachzuahmen und trifft dann auf Kinder, die dieses Nachahmen erst erüben müssen. Viele Kinder haben ein getrübtes Vertrauensverhältnis zur umgebenden Welt. Eurythmie bemüht sich gerade in der Kindergarten- und Unterstufenzeit um eine Heilung dieses gebrochenen Vertrauensverhältnisses. Nur wer vertraut, kann nachahmen. Durch ein nahezu unbegrenztes waldorfpädagogisches Angebot an altersgemäßen, sinnerfüllten Bewegungsübungen, die sich nicht nur auf das Physische beziehen, sondern dem kindlichen Seelenleben und dem geistig-seelischen Entwicklungsstand der Kinder gerecht werden, wirkt der Eurythmieunterricht. Die von Willenserziehung geprägte Mittel- stufenzeit ist eine wunderbare Herausforderung für jeden Pädagogen. Die Eurythmie, die aus dem Rhythmischen heraus arbeitet, bietet eine Vielzahl von Übungen, die das Soziale in der Gemeinschaft und die individuellen Begabungen gleichermaßen fördern. Schüler in diesem Alter müssen sich spüren, sich erleben und am Gegenüber ein wenig abschleifen. Die Schulabschlüsse fordern von den Schülern der Oberstufe einen hohen Arbeitseinsatz; für die Gemeinschaft und für Hobbys. Instrumentalunterricht, Sport, kulturelle Interessen werden zum Teil aufgegeben, da die Zeit nicht mehr ausreicht. Die hohe Belastung führt häufig zu Haltungsschäden, Essstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und erhöhter Anfälligkeit für Krankheiten. Hier kann die Eurythmie in vielerlei Hinsicht helfen: regenerative Übungen erfrischen die Lebenskräfte, die große Darstellungs- und Bewegungsfreude der Schüler findet Nahrung in der eurythmischen Erarbeitung von Texten und Musik, Choreografien und gemeinschaftsbildende Übungen führen aus der Vereinzelung zurück in die Gemeinschaft. Durch die intensive Beschäftigung mit der Kunst finden die Schüler Anschluss an die in ihnen schlummernden Ideale.

Auf das Gefühl kommt es an

In den vergangenen Jahren ist mir deutlich geworden, dass neben der Unterstützung der Bewegungsentwicklung, der Stärkung des Willens, die Entwicklung einer »gesunden Empfindung« eine wesentliche Aufgabe der Schuleurythmie darstellt. Gerade im Bereich des Fühlens, des Zulassens und Zeigens von Gefühlen sowie ihrer Differenzierung spielt die Eurythmie eine große Rolle. Meine Ausbildnerin sprach immer von einem Gefühlsklavier, das in uns schlummert, von dessen Tasten wir nur einen kleinen Teil benutzen. Wir können uns durch gezielte Übungen schulen, diese verstärkt wahrzunehmen, zu zeigen und zu benutzen. Doch geht es nicht nur um das Erkennen der persönlichen Gefühle, sondern auch um das Verständnis dafür, dass Gefühle uns einen Zugang zur Welt vermitteln können. Freude, Schmerz und Trauer sind zwar subjektiv Erlebnisse, aber ebenso allgemeine menschliche Gefühle, die objektiv darstellbar sind. Die eurythmische Darstellung der größten kulturellen Schöpfungen, ergreifender Lyrik oder Musik führt zum Erleben objektiver Gefühle.

Das kann Jugendlichen in Krisensituationen eine Hilfe beim Finden des eigenen Wegs sein.

»Könnten Sie das tanzen?«, fragte Rudolf Steiner 1908 die junge Malerin Margarita Woloschin im Anschluss an einen Vortrag zum Prolog des Johannes-Evangeliums, wo es heißt: »Am Anfang war das Wort …«. Ihre Antwort war: »Ich glaube, man könnte alles tanzen, was man fühlt«. Woraufhin er erwiderte: »Aber auf das Gefühl kommt es doch heute an.«

Diese Antwort Steiners habe ich viele Jahre lang nicht verstanden. Als Eurythmielehrer empfand ich Widerstand gegen eine Eurythmie als »Gefühlskunst«, da sie doch auf alle Seelenkräfte: Denken, Fühlen und Wollen wirkt. Wenn ich heute über diese Antwort nachdenke, so empfinde ich eine tiefe Wahrheit darin. Mir scheint, dass ich in einer Welt lebe, in der die »gesunde« menschliche Empfindung sich immer mehr abkoppelt vom Denken und Handeln und die Empathie mit den Mitmenschen immer mehr schwindet.

Eurythmie entwickelt und pflegt die emotionale Intelligenz

Unsere traditionellen Bildungssysteme berücksichtigen vor allem die kognitive Intelligenz. Den Erkenntnissen der modernen Hirnforschung zufolge ist Lernen erfolgreich, wenn das Gefühl beteiligt ist. Lernen bedeutet, sich gefühlsmäßig mit den Inhalten zu verbinden. Lernen ist nicht ein bloßes Abspeichern von Informationen, wenn es auch in vielen Bereichen der Pädagogik so gehandhabt wird. Nur in wenigen Schulformen wie der Waldorfschule gibt es eine verstärkte Pflege der emotionalen Intelligenz der Schüler. Hier lag vielleicht ein wichtiger Grund für Steiner, die Eurythmie in die Waldorfschule zu integrieren.

Die Arbeitswelt ist inzwischen weitgehend digitalisiert und dies wird sich noch verstärken. Gunter Dueck, Mathematiker und ehemaliger CTO bei IBM, prognostiziert eine Arbeitswelt, in der es nur in den Bereichen Arbeit gibt, für die der Computer zu dumm ist. Was kann der Computer nicht? Was benötigt die Arbeitswelt an Fähigkeiten? Eine Antwort ist nur schwer zu finden; der rasche Wandel macht sichere Prognosen fast unmöglich. Umso wichtiger ist es vielleicht, sich auf ein Bildungsideal zu besinnen, das nicht in erster Linie die Verwertung der erworbenen Bildung in der Arbeitswelt als Ziel hat, sondern Persönlichkeitsbildung, eine Orientierung in der Welt, die in den eigenen Idealen verankert ist.

Was brauchen wir für unsere Zukunft und was brauchen unsere Kinder? Menschen, die im besten Sinne sozial mit ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt umgehen. Menschen, die eine Wahrnehmung des Zwischenmenschlichen haben, Menschen, die in einem gesunden Verhältnis zur Welt stehen. Soziale Kompetenz ist ohne Empathie nicht möglich.

In einem großen Teil der künstlerischen Eurythmie mit Schülern wird die Fähigkeit zu einem kontrollierten und flexiblen Umgang mit den Grenzen eigener und fremder Identität geübt. Schüler erfahren den tieferen Gehalt eines Textes oder eines Musikstücks, machen ihn sich nach und nach zu Eigen, um ihn schließlich zur Darstellung zu bringen. Dies ist unter anderem eine Übung in Empathie: Ich fühle, was der Dichter fühlte und dachte, ich empfinde, was der Komponist empfand. Empathie ist Voraussetzung für das Verständnis fremder Erlebnisse, das Tor zu einem schöpferischen Prozess.

Eurythmie bietet sich als Medium für diesen spielerischen, künstlerischen Umgang mit den Grenzen eigener und fremder Identität an; besonders dann, wenn in einer bestimmten Entwicklungsstufe das Bedürfnis entsteht, Erfahrungen weit reichender oder extremer Art zu machen, die im eigenen Alltag kaum möglich sind.

Zum Autor: Jürgen Frank ist Eurythmielehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Hamburg-Bergstedt, Dozent an der Hoogeschool Leiden, NL, und Mitglied von IPEU (Initiative Pädagogische Eurythmie), Forscher und Autor im Bereich der Eurythmiepädagogik.