Jeder kennt seinen Namen, unzählige Reisende haben es besucht, in den politischen Ereignissen der vergangenen sechs Jahrzehnte hat es immer wieder Schlagzeilen gemacht, seit das Militär 1952 den König stürzte und Gamal Abd el Nasser 1956 mit der Nationalisierung des Suezkanals die Westmächte provozierte. Und doch wissen wir im Grunde wenig über das Land und seine Menschen.
Astrid Lütje hat es unternommen, ein Gesamtbild Ägyptens zu entwerfen – zum einen als geographische Landeskunde, zum anderen aber aus ihrer aktuellen Kenntnis in der Begegnung mit Ägyptern in verschiedensten Lebenszusammenhängen. Das mag als gewagter Spagat erscheinen, muss es doch die Nüchternheit wissenschaftlicher Darstellung mit der Lebensfülle eines Volkes vereinen, wie sie sozial und kulturell kaum vielfältiger denkbar ist.
Das Buch will vor allem ein Lesebuch für den Geographieunterricht sein. Darin liegt seine Besonderheit und seine Stärke. In der Begegnung mit Landschaften und Menschen lernen wir alle Facetten ägyptischen Lebens kennen: den Alltag der Bauern, die Verwurzelung in einer uralten Tradition, die Prägung durch den Islam und die Problematik mit der koptisch-christlichen Bevölkerung. Angesichts der weit gespannten Thematik konnte es nicht ausbleiben, dass Schwerpunkte gesetzt werden mussten und anderes zurückgestellt wurde. Bewusst ausgeklammert ist die altägyptische Kultur, deren touristische Auswirkung aber in manchen der biographischen Interviews sichtbar wird. Dagegen sind christliche wie auch islamische Wurzeln hervorgehoben, wobei der schiitische Islam eher unklar bleibt.
Sehr ausführlich ist die Stadtentwicklung Kairos dargestellt und es wird deutlich, wie sich darin eine Verschmelzung der islamischen Komponente und der mitteleuropäischen Einflüsse vollzogen hat, so dass man heute eigentlich von zweierlei Ägypten sprechen kann – den immer noch bäuerlich bestimmten ländlichen Provinzen und dem ungezügelt wachsenden Kairo, in dem inzwischen mehr als ein Fünftel der Bevölkerung lebt, und in dem sich das intellektuelle Leben abspielt. Obwohl der Titel zunächst nur eine Darstellung der aktuellen Probleme vermuten lässt, finden wir in dem gewichtigen Band eine umfassende Charakterisierung des Nillandes, seiner Vergangenheit und seiner Menschen, mit vielen unschätzbaren biographischen Bildern aus der persönlichen Begegnung der Verfasserin mit Ägyptern verschiedenster sozialer Schichten. Besonders wichtig sind die Einblicke in die Rolle der Frau und in die Anforderungen, die sich aus der unaufhaltsamen Modernisierung und den aktuellen politischen Spannungen ergeben.
Astrid Lütje: Brot! Freiheit! Gerechtigkeit! – Ägypten im 21. Jahrhundert. Einblicke aus geographischer und zeitgeschichtlicher Perspektive. Für den Unterricht der Mittel- und Oberstufe an Waldorfschulen, Broschur, 454 S., EUR 26,– edition Waldorf, Bildungswerk Beruf und Umwelt, Kassel 2015