Als Mutter versuche ich einen Raum für unsere Kinder zu schaffen, in dem sie sich nicht nur wohlfühlen, sondern auch so sein dürfen, wie es gerade kommt. Einen Raum, in dem der Trotzanfall genauso sinnvoll ist, wie der Umgang mit dem gerade gefundenen Marienkäfer. In meiner Familie versuche ich alle Gefühle und Äußerungen zunächst als richtig und wichtig wahrzunehmen. Dieses Bild beginnt mit der immer häufigeren und vor allem länger werdenden Betreuung der Kinder im Kindergarten oder Hort zu bröckeln.
Die Betreuung in größeren Gruppen erfordert von unseren Kindern ein hohes Maß an Selbstkontrolle und ein permanentes Austauschen und Absprechen mit den anderen Kindern. Zu Recht versuchen die Erzieher und Betreuer in guten Einrichtungen die Kinder auch emotional immer dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden und eine möglichst enge Beziehung zu ihren Schützlingen aufzubauen. Doch haben die Betreuer zu einer größeren Zahl an Kindern eine Beziehung aufzubauen als die Mutter oder der Vater. In einer größeren Gruppe von Kindern stört ein einziger Trotzanfall nicht nur den ganzen Ablauf, sondern auch die anderen Kinder in erheblichem Maße. Das bedeutet, dass Kinder in größeren Gruppen sich sehr angepasst verhalten müssen.
Sich in bestimmten Gruppen angepasst zu verhalten, ist pädagogisch erwünscht. Das Sozialverhalten ist im Moment ein zentrales Thema in unserer Familienpolitik und das angepasste Kind der Schlüssel einer modernen Familie. Da bleibt kaum Raum für Entwicklungsschübe, Trotzphasen und das Austesten von Grenzen. Kinder, die häufig und lange täglich betreut werden, müssen all diese Phasen, wenn überhaupt, im Kindergarten oder Hort durchmachen. Sie lernen schnell, dass nicht jedes Verhalten richtig ist. Im glücklichsten Fall sparen die Kinder all ihre Wut, ihren Trotz, aber auch ihre Freude auf, bis die Eltern da sind und entlassen ihre angestauten Gefühle erst in der vertrauten Umgebung ihrer eigenen Familie. In ihrer Familie müssen die Kinder kein angepasstes Verhalten mehr zeigen, hier können sie sich – im Idealfall – fallen lassen.
Für die Eltern, die recht angespannt und geschafft ihre Kinder abholen, ist dies nicht nur sehr anstrengend, sondern auch zunächst befremdend. Man erhofft sich doch nach einem langen Arbeitstag seine Kinder wenigstens ein bisschen ausgeglichen und freudig zuhause. Stattdessen gibt es nur Streit, Geschrei oder aber ein fast kühles Miteinander mit erschöpften Eltern, die kaum noch die Kraft haben, die Gefühlsäußerungen, die das Kind einen ganzen Tag lang zurückgestaut hat, aufzufangen.
Die Familie wird ihrer zentralen Rolle und ihren Aufgaben im sozialen Leben beraubt.
Sie ist mehr als ein Ort zum Schlafen und Ausruhen. Sie ist ein Ort, an dem man am wenigsten angepasst sein muss und (noch) die Freiheit hat, so geliebt zu werden, wie man ist.
Zur Autorin: Hannah Frank ist Mutter von drei Kindern im Kindergartenalter. Sie ist im Elternrat des Waldorfkindergartens Schwerte und arbeitet als Krankenschwester im Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke.