Faust – das Festival

Ute Hallaschka

Schon im Vorfeld der Organisation stellt dieses Festival ein Gesamtkunstwerk der deutschen Waldorfschulen dar: Ob sich Zwölftklass-Schüler bereitfinden, mit ihrem Klassenspiel als Teil eines Ganzen zum Gesamt-Faust beizutragen? Schließlich entscheidet das Losverfahren; wer welche Akte übernimmt, weiß man vorher nicht. Die Aufführung ergibt sich erst an Ort und Stelle. Was soll es werden, wenn nicht ein Puzzle? – Ein Wagnis.

Wer damals dabei war und die Einmaligkeit der Idee und die Verschiedenheit der Inszenierungen erlebt hat, der kann tatsächlich mit Goethe sagen: Zeit wird zum Raum – zum Zeitraum des eigenen Lebens. Vor fünf Jahren war ich hier, was habe ich in der Zwischenzeit gemacht? So geht es offenbar auch einigen Projektteilnehmern; viele damalige Schüler sind jetzt unter den Zuschauern. So kann ein Kunstprojekt zum biographischen Brennglas werden: Habe nun, ach, dies oder jenes studiert … aber bin ich meinen Zielen nähergekommen? Mit dieser Frage ist man als Zuschauer nicht weniger beteiligt als die jungen Akteure.

Und was hat sich da draußen ereignet? Welche neuen Jugendimpulse stehen auf dem Spielplan? Denn das wird mir immer offenbarer: Im Theater zeigt sich der gesellschaftliche Zeitgeist. So auch hier, ganz ohne Absprache der Teams untereinander häufig dieselben dramatischen Stilmittel – vor fünf Jahren waren das die Elektrogitarren, diesmal ist es ein neuer Umgang mit Geschlechterrollen. Mephisto ist auffallend häufig weiblich besetzt. Doch das scheint weniger eine Provokation oder gar eine neue Klischeeordnung, als vielmehr der unverkrampfte Umgang mit dem, was als männlich-weibliches Potenzial in jedem Menschen schlummert. Auch die nahezu selbstverständliche Aufteilung der Hauptrollen auf verschiedene Spieler ist kein spezieller Regieeinfall oder der Not der Textmassen geschuldet, sondern in Netzweltzeiten eine Art zwischenmenschlicher Wesensgliederung. In dem, was zwischen uns spielt, drückt sich Identität aus, weniger in der eigenen Hauptrolle. Verwandlung in eine Figur ist im Netz problemlos möglich. Hier, auf der Bühne, liegt die Kunst darin, sich selbst wirklich in Echtzeit zu verwandeln, verschiedene Figuren in schnellem Wechsel zur Deckung zu bringen und sie alle vom eigenen Mittelpunkt her glaubwürdig zu gestalten. So muss ein Faust sich im Zusammenspiel vielleicht blitzschnell auf einen neuen Mephisto einstellen und umgekehrt. Auch das Publikum: Kaum hat es eine schöne Helena liebgewonnen – kommt eine andere des Weges.

Die Waldorfschule Ismaning ist dieses Mal lediglich Gastgeber und stellt keine eigene Truppe. Mitten im laufenden Schulbetrieb, was man erst nach einiger Zeit realisiert, wird das Projekt in unglaublich entspannter Atmosphäre bewältigt. Wildfremde, die sich im Mittelpunkt einer phantastischen Idee begegnen, als wären sie hier alle zu Hause. Diese Heimatgebung geht deutlich spürbar von der ästhetischen Fragestellung aus: Kann man die Wirklichkeit der Sachzwänge, in der wir alle leben, spielerisch so behandeln (wie es im Theater ja immer geschieht), dass es scheint, als wäre unser Leben Idee – eine eigene Idee, die wir konkret fassen und bilden, von dem, was wir wollen?

Aus Wendelstein, Landsberg, Potsdam und Dresden sind die Schüler angereist, die sich im Laufe der Tage gegenseitig wahrnehmen, im praktischen Ablauf unterstützen und in spielerischer Hinsicht herausfordern werden. Für diese Konfrontation braucht es wirklich Seelenmut. Natürlich gibt es Qualitätsunterschiede und man müsste blind oder taub sein, um sie zu ignorieren. Doch wie geht man damit um? Das ist eine Frage der Sozialskulptur, die das Festival wie selbstverständlich bildet. In den sogenannten sozialen Medien herrscht bekanntlich das Gesetz der Masse – da ist nur Mensch und darf es sein, wer über genügend Likes und Follower verfügt. Und in Ismaning?

Hut ab vor den tapferen Schülerherzen, die sich dieser Herausforderung stellen. Sie sind durch die eigene Arbeit am Stück zugleich die besten gegenseitigen Kritiker und sparen doch keineswegs mit Lob und Achtung, das Werk der anderen zu würdigen. Gerade dann, wenn eine herausragende Leistung gezeigt wird, welche die eigene vielleicht überflügelt, herrscht statt Missgunst helle Begeisterung.

Dem erwachsenen Zuschauer schlagen zwei Seelen in der Brust, die eine mit pädagogischen, die andere mit künstlerischen Idealen. Aber das ist ja gerade der Witz der Klassenspiele.

Wird dieser Impuls Rudolf Steiners ernstgenommen und ihm trotz aller schulischen Sachzwänge genügend Freiraum gewährt, dann zeigt sich die geheimnisvolle Alchemie des Schauspiels: die real existierende substantielle Veränderungskraft dramatischer Kunst.

Hier ist nicht Raum für eine Theaterkritik und das ist auch nicht der Sinn des Festivals, doch zwei Beispiele dürfen nicht unerwähnt bleiben. In der Originalität und Spielfreude der Potsdamer Aufführung gab es so viele Augenblicke, in denen man nicht sicher sein konnte: Ist das jetzt gespielt oder echt? Was sich als absurde Frage natürlich von selbst beantwortet, durch die Wahrhaftigkeit des Spielerischen. Ob in der Eingangssequenz, als der Faust-Darsteller aus dem Text geriet und doch keine Sekunde aus der Rolle fiel – einfach als Faust weiter nach dem Text suchte – oder beim Osterspaziergang, als der wundersam wandelbare Mephisto plötzlich mit russlanddeutschem Akzent sprach.

Die Dresdner Inszenierung zeigte ein Wunder. In Wirklichkeit gibt es keine Klasse, in der jeder einzelne ein begabter Schauspieler ist. Aber hier sah es so aus. Weil es Kunst war, wurden alle zu Künstlern. Bis in die Nebenrollen – den vier Gewalttätern aus Faust ll möchte man ernsthaft nicht im Dunkeln begegnen. Atemberaubend gut das Ganze!

Hinweis: Damit es weitergehen kann, braucht das Faust-Festival alle Unterstützung, die sich finden lässt. Die hat es mehr als verdient. Damit es zum dritten Mal und in Zukunft stattfinden kann, benötigt der bisherige Organisationskreis neue Mitglieder.

Zur Autorin: Ute Hallschka ist freie Autorin.