Leistung will gesehen werden. Wie sich ein Begriff allmählich wandelt

Henning Kullak-Ublick

»Diese Klasse ist nicht unterrichtbar!« Mit diesen Worten stellte mir vor etwas mehr als acht Jahren eine Kollegin meine künftige erste Klasse vor, nachdem die Aufnahmegespräche abgeschlossen waren. Es folgte eine Aufzählung von Defiziten, die sich als »Katalog der Zivilisationsschäden der Jugend von heute« bestens in die neuerdings populären Erziehungsratgeber für inhaltsleere Sekundärtugenden à la »Lob der Disziplin« eingefügt hätte. Merkwürdig nur, dass ich jedes Mal, wenn ich einem meiner künftigen Schüler begegnete, von dessen Anmut berührt war, die ich so gar nicht mit dem Urteil meiner sehr geschätzten Kollegin in Deckung bringen konnte.

Meister in Star Wars – Lethargie in der Schule

Ein Schuljahr vorher hatte ich eine achte Klasse in die Oberstufe entlassen. Damals traten gerade die aufwendig animierten Computerspiele ihren Siegeszug an, und ich hatte bei einem Jungen beobachten müssen, wie er eine unglaubliche Meisterschaft beim Spielen von Star Wars entwickelte, während er in der Schule nach und nach in eine Lethargie verfiel, aus der ich ihn nur selten herauszuholen vermochte. Dieser Eindruck war so stark, dass ich ein Jahr Abstand brauchte, um zu sortieren, was davon auf das Konto unserer gemeinsamen Jahre ging und was auf eine zivilisatorische Errungenschaft, die inzwischen, weitere acht Jahre später, zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Was hat beides miteinander zu tun? Meine Kollegin hatte beobachtet, dass vielen meiner künftigen Schüler die natürliche Geschmeidigkeit und Sicherheit in ihren Bewegungsabläufen fehlte, während sie gleichzeitig über ein so waches, urteilendes Bewusstsein verfügten, wie sie es sonst von wesentlich älteren Kindern kannte. Offensichtlich hatten viele Kinder ihre Wachstumskräfte zu früh in den Kopf, also in das vorstellende Urteilen, schicken müssen, als sie sie noch für die gesunde Ausbildung ihres Leibes gebraucht hätten: Ihre körperliche Reife und seelische Entwicklung waren nicht im Gleichgewicht, was dazu führte, dass sie auffallend unruhig waren und schnell ermüdeten, wenn ihre Aufmerksamkeit beansprucht wurde.

Wie stand es bei dem oben erwähnten Achtklässler? Er konnte sich zu kaum einer Arbeit aufraffen, die ihm seelische oder physische Anstrengungen abverlangte, war aber ein Meister in der Manipulation virtueller Vorstellungs­bilder geworden, die er nicht innerlich erzeugen musste, sondern bei denen er sich von außen Gefühle abholen konnte: Kicks durch Klicks. Dieser Junge hatte seine Kindheit in dem deutlichen Bewusstsein verbracht, dass er – im Gegensatz zu seinem Bruder – weder den Ansprüchen seines sportbegeisterten Vaters noch den schulischen

Ansprüchen seiner Mutter genügte. Für mich blieb die Frage, was wir hätten tun sollen, damit der Junge seine eigenen Kräfte viel mehr kennen, lieben und nutzen gelernt hätte: Was gehört dazu, damit der frühkindlich ganz in die Leibesvorgänge eingebundene Wille seelisch wirksam werden kann? Wie emanzipiert sich die Seele aus ihrer Abhängigkeit vom Leib und lernt, ihn als Instrument zu nutzen?

Diese Fragen bewegten mich also, als meine Kollegin mir die »Nichtunterrichtbarkeit« meiner neuen Klasse prophezeite. Aber nicht nur mich: Seit einigen Jahren breitet sich an vielen Waldorfschulen das bewegte Klassenzimmer aus, das auf feste Schulmöbel verzichtet und stattdessen einen lebendigen Wechsel von Bewegung und Ruhe ermöglicht. Im ersten Vortrag der »Allgemeinen Menschenkunde«,

Rudolf Steiners epochaler Vortragsreihe zu einem grund­­legenden Paradigmenwechsel im Verständnis von Schule und Unterricht, betont dieser mit großem Nachdruck, dass die elementarste Voraussetzung für die gesunde Entwicklung der Kinder – der rhythmische Wechsel von Einatmen und Ausatmen – keineswegs eine gesicherte Naturtatsache sei, sondern in den ersten Schuljahren ganz besonders gepflegt und gefördert werden müsse. Entsprechend müsse der Unterricht selbst von einem atmenden Rhythmus durchzogen sein und den Kindern die Möglichkeit geben, sich im Wechsel anzustrengen, zu entspannen, zu bewegen, zu ruhen, zu beobachten oder selbst zu handeln.

Manchmal ist Angeln einfach wichtiger, als Hausaufgaben machen

Dieses Prinzip gilt natürlich für die ganze Schulzeit, aber die Ausdrucksformen wandeln sich. Die individuelle Entwicklung eines Menschen hat einen mit dem Lebensalter korrespondierenden Resonanzboden, auf dem sich seine seelische und körperliche Reifung vollzieht. Ein lebendiger Leistungsbegriff muss beides berücksichtigen, weil sich Entwicklung immer zwischen den Polen des Individuellen und des Gemeinschaftlichen bewegt.

Dies alles im Hinterkopf, ließen sich »meine« neuen Eltern auf das bewegte Klassenzimmer ein: Morgens balancierten die Kinder auf Strümpfen in die Klasse, und nach diesem »Schwellenübertritt« begann ein buntes Treiben mit allerlei Materialien, an denen sie ihre Geschicklichkeit erprobten. Allmählich ging das in rhythmische Übungen über, bis wir uns irgendwann mucksmäuschenstill an die Arbeit mit Heften, Knetwachs oder anderen Materialien machten. Eine den Deutschen heilige Kuh galt es noch zu schlachten: die Schulaufgaben. Die waren fast immer freiwillig, damit die Schule sich um das Leben drehen konnte und nicht umgekehrt. Manchmal ist Angeln einfach wichtiger. Bis ins fünfte Schuljahr hinein machten übrigens nie weniger als die Hälfte der Kinder – in wechselnder Besetzung – diese freiwilligen Hausaufgaben. Worum ging es bei alldem?

Das Kind will als lernendes gesehen werden

Viele Kinder konnten, als sie in die Schule kamen, tatsächlich kaum balancieren, rückwärts laufen oder rhythmisch springen. Manche ermüdeten schnell, andere mussten einfachste feinmotorische Bewegungen üben, wieder andere konnten zwar schon schreiben und lesen, aber keine Sekunde lang stillsitzen. Aber an jedem Tag wuchs jedes Kind ein kleines Stückchen über sich hinaus – weil es sich anstrengte. Rudolf Steiner schrieb uns Lehrern ins Stammbuch, von den drei Lernanreizen Angst, Ehrgeiz oder Liebe sollten wir auf die beiden ersten verzichten. Jedes Kind sollte daher eigene Anknüpfungspunkte finden, von denen aus es weitergehen kann. Sehr hilfreich war, dass sich vorüber­gehend eine »Klassenhelferin« gezielt um einzelne Kinder kümmerte und so wirklich alle Kinder sich in ihren Fortschritten gesehen fühlen konnten. Dieses Gesehenwerden ist der wichtigste Schlüssel für einen Leistungsbegriff, der die Kinder ermutigt, sich auch dann anzustrengen, wenn es Überwindung kostet.

Um es kurz zu machen: Zwar dauerte es eine gewisse Zeit, aber dann hatten die Kinder so eine Freude am Arbeiten bekommen, dass ich vor allem aufpassen musste, dass der Berg, den sie so oder so jeden Tag versetzten, keinem anderen auf die Füße fiel.

Die Welt ist schön – und ich fühle, denke und handle auch so!

Schon vor Beginn der Mittelstufe deutete sich eine Wandlung bei den Kindern an, die bald deutliche Konturen annahm: Die Auseinandersetzung mit den Unterrichts­inhalten bekam zunehmend individuelle Züge. Fähigkeiten blühten auf, die vorher nur im Keim zu ahnen waren, spezielle Interessen wurden vertieft, für einige Zeit summte die Klasse wie ein Bienenschwarm vor produktiver Harmonie. Das Grundgefühl war: Die Welt ist schön, und ich fühle, denke, handle auch so!

Mit dem Einsetzen der Pubertät begann diese gefühlte Einheit zu zerfallen, während die Jugendlichen ihre Gedanken und Vorstellungen, die Verinnerlichung ihrer Gefühls­welt sowie das Auf- und Abwallen ihres Wollens zunehmend als autonome und produktive Seelenkräfte erfuhren – und erfahren. Leistung bedeutete jetzt, diese Kräfte aktiv und aufgabenbezogen miteinander zu verbinden, indem man sich deutliche Ziele setzte und unterschiedliche Welterfahrungen gedanklich zueinander in Beziehung brachte. Die Jugendlichen sollten sich auf den unterschied­lichen Feldern als selbstständig Handelnde erproben und ihre Erfahrungen reflektieren.

Was hilft dem Schüler, seinen Weg zu gehen?

Leistung, wie sie hier gemeint ist, ist Arbeit daran, die zunächst unbewusst an den Organismus gebundenen Kräfte immer bewusster als Gestaltungskräfte einzusetzen. 

Dieser Weg ist gesäumt von zivilisatorischen und elektronischen Wegelagerern, die sich davon nähren, dass sie uns die dazu notwendigen Anstrengungen scheinbar abnehmen und uns von außen liefern, was sonst mühsam errungen werden muss. Und doch: Acht Jahre mit meiner »nichtunterrichtbaren« Klasse haben mich – gerade angesichts der Lockrufe vieler multimedialer Nuckel­flaschen –  vor allem dies gelehrt: So genannte »Leistungsdefizite« besagen nach herkömmlicher Lesart fast immer, dass Kinder etwas noch nicht können, was sie in ihrem Alter können sollten. Es ist an der Zeit, die Beweislast umzukehren: Was habe ich an dem Kind noch nicht gesehen, das ihm hilft, seinen Weg gehen zu wollen?