Brot statt Steine

Matthias von Radecki

Szene 1

Franziska war irritiert und ratlos. Sie erzählte von ihrer ersten Begegnung mit Paul. Es war der erste Tag ihres Sozialpraktikums in einer Dorfgemeinschaft. Sie wollte Paul aus seinem Zimmer holen. Paul saß wie abwesend auf einem Stuhl, einen Papierblock in seiner Hand, dessen Seiten er unaufhörlich durchblätterte. Er schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. »Paul es gibt Tee und Kuchen, wir warten auf dich.« Elektrisiert und ohne sich umzusehen, sprang Paul auf sein Bett und vergrub in einer verkrampften Hocke sein Gesicht in der Bettdecke. Als Franziska ihn sanft hochzuziehen versuchte, ertönte ein gepresster Schrei, dessen Ein­dringlichkeit und Verzweiflung Franziska bis ins Mark ging. Sie rief um Hilfe. Das Ereignis verfolgte sie noch lange.

Vier Tage später treffen wir uns zu unserer abendlichen Runde. Die 14 Zwölftklässler sind erschöpft von diesem langen Tag, aber auch erfüllt von den vielen Erlebnissen mit den Betreuten in den Werkstätten und Familien. Niemand kommt zu spät, auch wenn einige Betreute ihre geliebten Schüler kaum gehen lassen. Sie wollen sich über ihre Erlebnisse austauschen, wollen wissen und verstehen lernen. Franziska wirkte gelöst. Etwas war geschehen. Paul war in der Küchengruppe heute vormittags mit ihr zu Hause geblieben. Während sie half, das Essen vorzubereiten, hielt sich Paul in einer anderen Ecke der Küche auf. Plötzlich stand der Mixer neben ihr, den sie gesucht hatte. Als sie ihre Speise anrührte, spürte sie, wie sich jemand an sie lehnte. »Paul ist genau so ein Mensch wie wir, er kann nur nicht heraus aus seiner Schale, ich verstehe ihn, denn oft geht es mir auch ein wenig wie ihm.« Franziska hatte verstanden. Das Sozialpraktikum wurde zu einer einschneidenden, auch ihren späteren Berufswunsch bestimmenden Erfahrung.

Szene 2

»Gentechnik und Reproduktionsbiologie: Grundlagen, Anwendung und ethische Fragen« stehen auf dem Lehrplan im Fach Biologie der 12. und 13. Klasse. Themen für das Abitur, die eine moralische, das Gewissen ansprechende Einschätzung erfordern. Die Biotechnologie und deren verschiedene Verfahren bilden den Ausgangspunkt: Präimplantationsdiagnostik (PID), die Erstellung eines Karyogramms zur Frühdiagnose des Downsyndroms, die Über- tragung von Genen des Menschen in Bakterienkul­turen zur Insulinherstellung. Das Prinzip dieser Verfahren muss von den Schülern gelernt werden. Die Prüfungsfragen fordern deren Verständnis und Anwendung als Transferleistung auf bisher für den Schüler unbekannte Beispiele. Im Klassenzimmer wird auch das Pro- und Contra der Argumente bewegt. Selbstverständlich wird auch über die Situation von Eltern behinderter Kinder, die Kostenfrage für die Gesellschaft, Risiken der Methoden und die Situation der Behinderten diskutiert.

Aber auf welch wirklichkeitsferner Grundlage spielt sich das alles ab, besonders wenn Erfahrungen aus einem Sozialpraktikum nicht vorliegen: Steine statt Brot für einen Jugendlichen! Wer kann den Einsatz dieses oder jenes technologischen Verfahrens befürworten? Wer würde dies ablehnen? Eine Abstimmung beendet mehr oder weniger rasch die Diskussion, die Politik macht es vor. Doch führen diese Wege zu Gewissensentscheidungen, die in das indi­viduelle Schicksal eingreifen?

Stellt man diese beiden Variationen der Vertiefung eines Themas, das Sozialpraktikum und die Behandlung im Klassenraum gegenüber, so wird man nicht das eine gegen das andere ausspielen wollen. Der Überblick, das Wissen und Verständnis aktueller Verfahren und Forschungen ist für eine ethische Diskussion von Belang. Das eigentliche Problem für die Gestaltung von Lernprozessen stellt die einseitige Ausrichtung der Lehrpläne der verschiedenen Unter- richtsfächer auf die traditionellen Formen staatlicher Prüfungen dar. Die Auswirkungen können wir an unseren Schülern täglich sozusagen auf dem Thermometer ablesen: Ihre Motivation ist längst abgekühlt, wenn es in der dritten oder vierten Fachstunde erneut um eine »wesentliche« Fragestellung geht, wie zum Beispiel um das genannte biotechnologische Verfahren. Danach folgt noch eine fünfte und sechste Stunde, vielleicht mit einem wesentlichen mathematischen Problem, einem literarischen, historischen oder sprachlichen Thema.

Das Ziel der Schulabschlüsse steht viel zu sehr im Vordergrund des gesellschaftlichen Interesses und ist geradezu darauf angelegt, zu selektieren statt individuelle Begabungen zu fördern. Schon der Viertklässler weiß, dass er unbedingt das Abitur machen will. Was ertragen Schüler an täglicher Beschulung nicht alles, nur weil sie, Eltern und Lehrer, der Stachel des Abiturs antreibt? Ob die staatlichen Schulabschlüsse oder ein waldorfschuleigener Abschluss, ob G8 oder G9 sollte zunächst gegenüber den viel wichtigeren Fragen zurücktreten: Was und wie lernen Kinder und Jugendliche in unserer heutigen Welt? In welches Verhältnis müssen Erlebnis und Wissen, Erfahrung und abstraktes Verständnis, Vorbild und eigenverantwortliches Handeln zueinander gebracht werden?

Es wird erforderlich sein, von den individuellen Lern­prozessen ausgehend die Schulabschlüsse zu reformieren und nicht die Lernprozesse auf einseitige und einheitliche Prüfungs- ­anforderungen auszurichten. Gerade mit einem möglichen waldorfeigenen Schulabschluss wird eine erhebliche Weiterentwicklung der Unterrichtspraxis und eine aus heutiger Sicht vertiefende Rückbesinnung auf die von Rudolf Steiner initiierten Wurzeln der Waldorfpädagogik verbunden sein: Eine Pädagogik, die von Wahrnehmung und Erkenntnis des sich entwickelnden Menschen ausgeht, die gedankliche, künstlerische, handwerkliche und soziale Fähigkeiten ausgewogen für die Persönlichkeitsentwicklung fördert und die nicht zuletzt die Nähe zur Lebenswirklichkeit der jeweiligen Zeit sucht.

Wie kann man verstehen, dass einzelne Schüler der oberen Klassen nach einem Unterrichtsmarathon noch Vorlesungen und Seminare an der Universität zum Beispiel über Psychologie oder Neurobiologie belegen, für die sie sich begeistern und erwärmen können? Wie ist es möglich, dass Elftklässler während eines einwöchigen naturwissenschaftlichen Praktikums im xlab auf dem Gelände der Universität Göttingen täglich acht Stunden Laborarbeit durchhalten und dabei ein beachtliches Pensum an Theorie verarbeiten können? Erstaunlich auch, wie sich Schüler mit Kunst und Architektur während einer Exkursion verbinden, welche Kreativität sie selber entfalten, nachdem sie Künstlern und Architekten in ihren Werkstätten begegnen und sie bei ihrer Arbeit erleben konnten. Wie viele Jugendliche übertreffen sich selber in Theaterprojekten?

Allen diesen hier nur beispielhaft genannten »Leistungen« ist gemeinsam, dass sie nicht durch Prüfungen motiviert werden, auch wenn Präsentationen oder Aufführungen einen letzten Ansporn geben. Ihnen ist gemeinsam, dass sie aus einem individualisierten Lernprozess gewachsen sind oder mit der Suche nach außerschulischen, der heutigen Lebenswirklichkeit nahen Erfahrungsbereichen, zusammen- hängen.

Schüler wollen sich als individuell Lernende wahrgenommen und gefördert wissen. Damit fällt den Lehrern über die ganze Schulzeit die Aufgabe zu, die Schüler zu eigenverantwortlichem Lernen anzuleiten und zunehmend die Rolle eines Lernbegleiters einzunehmen. Ein vielfältiges Repertoire an Methoden, insbesondere die Dokumentation und Reflexion eigener Leistungen im Portfolio sowie Projekte und Jahresarbeiten sind dazu bereits entwickelt und erprobt worden. Sie sind geeignet, die Schüler zu motivieren, weil sie sich mit ihren eigenen Fragen und Interessen ernst genommen fühlen. Auch lassen sie eine Differenzierung von Unterrichtsangeboten zu, bei denen Schüler der Oberstufe Schwerpunkte selbst wählen können. Für Schulabschlüsse ergeben sich geeignete Leistungsnachweise in Form von Präsentationen, Aufführungen und schriftlichen Dokumenta­tionen. Sie weisen die Kompetenz der Schüler für ein selbstverantwortliches und lebenslanges  Lernen nach.

Sollen die Erlebnisse, Fragen und Ideale der Jugendlichen nicht weitgehend aus einer medialen Scheinwelt entstehen, muss die Suche nach heutiger Lebenswirklichkeit in einem landwirtschaftlichen Betrieb, in sozialen Einrichtungen, in Kultur, Forschung und Technik zu einem zentralen Anliegen in der Schulzeit werden – eine »Entschulung« wird notwendig, wie sie schon in den 1970er Jahren von Ivan Illich und Hartmut von Hentig gefordert wurde.

Der Schule wird die Aufgabe zukommen, den vielfältigen Bezug zur Lebenswirklichkeit in Form von Praktika, Exkursionen, Betriebspartnerschaften zu organisieren, ihn individuell zu begleiten und auszuwerten. Hierzu gehören nicht nur die Vermittlung von Grundkenntnissen und Fertigkeiten, sondern auch die vertiefende und kritische gedankliche Auseinandersetzung, dazu gehören die Verknüpfung ethischer Fragestellungen mit den Erfahrungen einzelner Schicksale, von wissenschaftlichen Erkenntnissen mit der Verantwortung für die Zukunft.

Staatliche Abschlüsse werden den individuellen Leistungen der Schüler nicht gerecht. Präsentationen oder besondere Jahresleistungen werden erst allmählich und sehr anfänglich berücksichtigt. Im Vordergrund stehen weiterhin die stark abstrahierenden Intelligenzleistungen, deren Inhalte meist austauschbar sind.

Die Verkürzung von G9 auf G8 kann die wirklichkeitsnahen und aus dem individuellen Bezug der Jugendlichen sich entwickelnden Lernprozesse nur  erschweren oder verhindern. Die Waldorfschulen können sich darauf nicht einlassen. Sie sollten sich rechtzeitig darauf vorbereiten, das gewohnte und zuweilen bequeme Joch der staatlichen Prüfungen abzuwerfen. Von einer sich entfaltenden Kultur eigener Abschlüsse könnte ein starker Impuls für die Zukunft ausgehen.

Zum Autor: Matthias von Radecki ist Oberstufenlehrer für Biologie und Chemie an der Freien Waldorfschule am Kräherwald in Stuttgart