Ausgespielt. Über das Spiel an sich

Albert Vinzens

Der Hinweis auf das Spiel an sich verfolgt vorerst eine philosophische Spur. Sie erinnert an Immanuel Kant, der mit dem Ding an sich eine kopernikanische Wende im Denken eingeläutet wissen wollte. Eine solche Wende würde an sich auch dem Spiel gut bekommen und zwar hier und jetzt in Deutschland. Auf einer Autofahrt in den Alpen erblickte ich unlängst am Ortseingang eines Bergdorfs ein Plakat mit der Abbildung eines Igels. Über dem Igel stand »Achte auf mich«. Und darunter war in großen Lettern zu lesen: »Der Igelschutz dankt«. – Ich achte auf Dich, Igel, mein Freund, klar achte ich auf Dich, dachte ich im Weiterfahren, aber den Igelschutz brauche ich dafür nicht. Mir kam es plötzlich so vor, als wäre der Igel in der Mission für den Igelschutz unterwegs, anstatt für sich selbst und seine Brüder und Schwestern. Auf diesem Plakat schien nicht das Leben das Wichtigste zu sein, sondern die dahinter stehende Institution. 

Nicht nur Igel sind um ihrer selbst willen da

Nicht nur Igeln, auch spielheiteren Kindern stehen Institutionen gegenüber, nicht immer in freundlicher Gesinnung: Anwohner fordern Ruhe in ihrem Stadtteil zu jeder Tages- und Nachtzeit. Sie würden Spielplätze am liebsten in Parkplätze für ihre Autos umfunktionieren. Lehrer fordern unerbittlich Hausaufgaben. Nix spielen nach der Schule! Bitte schön, lasst das. Auch Mamas freuen sich, wenn die Kleider ihrer Kinder sauber bleiben. Wieso denn spielen? Das Leben ist ja schließlich auch kein Spiel, im Gegenteil. Irgendwann wollen die Kinder dann weder spielen, noch rausgehen, noch irgendwas. Das ist wie mit den Elefanten: Sie bleiben, wenn sie früh genug an Pfosten angebunden wurden, auch als baumstarke Riesen unbeweglich und brav neben den dünnen Befestigungen stehen.

Das Spielen in unseren Städten – und auf dem Land sieht es nur wenig besser aus – ist keine Freude mehr, sondern ein mieser Stress. Mit falschen Beschäftigungen werden unsere Kinder um Zeit und Freude gebracht. Statt spielen, heißt es stillsitzen. Bildung von Anfang an, heißt Stillsitzen von Anfang an. In den Bildungsplänen verkommt das Spiel zum Sprungbrett für das Lernen. Spielen und Lernen, behaupten sie, seien zwei Seiten einer Medaille.

Die Entwicklungspsychologie benutzt den Spielbegriff allzu oft für wissenschaftliche Selbstgespräche. Die Loblieder der Neurobiologie auf das Spiel sind, bei Tage betrachtet, Hymnen auf die Synapsenvernetzung. Wir stehen vor einem Igelschutzsyndrom. Ob Professoren, Erzieherinnen oder Unternehmer – sie sind in falscher Mission unterwegs. Wenn sie vom Spiel reden, reden sie genau nicht vom Spiel. Wer aber von heiligen Dingen handelt, hat keine Wahl, er muss wählerisch sein.

Spielen jenseits der Paragraphen

Schulen sind Institutionen, Kindergärten zunehmend auch. Im Schlepptau der Verordnungen droht ihre Lebendigkeit zu schwinden, während die Regeln wachsen. Ihr Unwesen bestimmt inzwischen die Bildung von der Universität bis zur Kinderkrippe hinab. Doch Studenten, Schüler und kleine Kinder sind keine Mechanismen, sie sind Organismen, lebendige Individuen. Wollen sie nicht leben, mal mit Regeln, mal ohne, schnell und wild, aber auch langsam und verträumt, alles, jetzt, ganz? Ist nicht ihre größte geheime Lust das Spielen, allen Unkenrufen über die Spielmüdigkeit zum Trotz? Die statistisch größte Sehnsucht heutiger Schülerinnen und Schüler ist die Sehnsucht nach Zeit. Diese wird für das Lernen verbraucht, wie die Luft in den Räumen, wo dieses Lernen regiert. Zeit und Raum aber bilden den Humus, auf dem Spielen gedeiht. Ohne diese Grundkategorien des Lebens gibt es kein Spiel. Lernen lässt sich beschleunigen, optimieren, korrumpieren.

Spielen geht anders. Spiel ist Maximum. Spiel ist nicht steigerbar, wie es das »gut – besser – am besten« alias »spielen – lernen – wissen« suggeriert. Die Zeit und die Räume, die das Spielen braucht, müssten von der Schule freigegeben werden, ohne Kompromisse. Das Spiel und seine jederzeit transformierbaren Regeln locken das Lebendige in uns und um uns herum hervor. Schulregularien, auch wenn es vermutlich nicht mehr ganz so viele sind wie zu Nietzsches Zeiten in Schulpforta, wo die Schulordnung 247 Paragraphen umfasste, tun dies in aller Regel nicht.

Tiefgründige Gedanken über das Spiel sind so selten geworden wie fragende Schülerinnen und Schüler. Das Nachdenken über das Spiel ist ein Forschungsgebiet, das für alle offen ist, nicht nur für Spieltheoretiker und Nobelpreisträger. Beim Nachdenken über das Spiel sind Fragen oft wichtiger als Antworten. Was für Goethe das schönste Glück war, nämlich das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren, widerspricht heutigen Kompetenzmustern. Das Denken über das Spiel wird von allen Seiten in die Mangel genommen. Die Begriffe sind ungenau, irreführend, unbrauchbar, zerrinnen ins Verschwommene und hängen gleichzeitig an einer viel zu kurzen Angel. Sie leiern aus und blockieren. Selbst das Funktionieren eines Motors fordert Spiel in seinen Teilen, was übrigens kein noch so präziser Computer berechnen kann. Ein Motor, der zu locker oder zu eng eingestellt ist, geht kaputt. Das Spiel in seinen Teilen wird von Menschenhand in einer Mischung aus Feinmotorik und Bauchgefühl präzise eingestellt. Wenn der Mechaniker das Spiel zu eng oder zu weit einstellt, schlagen die Motoren aus oder sie bleiben mit einem Kolbenklemmer stehen. Totalschaden, ziemlich schnell.

Wo sind die Feinmechaniker des Spiels? Statt an die Feineinstellung zu gehen, wird die Sache zerredet. Das ist ein handfestes Problem. Alles am Spiel will begriffen werden. Deduziert, induziert, Hauptsache geschnallt. Bitte möglichst keine Obertöne, das ist die Botschaft nicht nur in der Musikindustrie, sondern auch hier. Die Menschen werden immer rarer, denen hakenschlagende Gedanken wohl tun, die neue Weisheitsgebiete erschließen. Was Denker in ihrer Beschäftigung mit der Wahrheit, der Liebe, der Freiheit, dem Leben, dem Spiel jahrhundertelang als Energiezufuhr erlebten, nämlich die Kraft relationaler Unwägbarkeiten während des Denkens, wird ignoriert. – Der Dirigent Sergiu Celibidache sagte einmal, was Musik nicht ist, hört man überall. Mit dem Spiel ist es nicht anders. Was Spiel nicht ist, begegnet uns überall.

Das Spiel ist das Wesen des Menschen

Was aber bleibt, wenn wir von den Sprachverwirrungen rund um das Spiel ablassen? Was, wenn wir nur noch da von Spiel reden, wo wirklich Spiel ist? Die Antwort wäre vermutlich ein langes Schweigen. Wie könnte ein Denken aussehen, das sich von den Spielideologien verabschiedete und das Spiel als das Wesen des Menschen zu erahnen suchte? Einem solchen Denken stünde Ähnliches bevor wie damals Friedrich Schiller, der in seinen philosophischen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen die Melancholie seiner Zeitgenossen überwand und nach einer langen Auseinandersetzung mit den Verrücktheiten um ihn herum – die verrückterweise mit dem Wahnsinn von heute korrelieren – Worte für das Spiel erfand, deren Tiefsinn schwer zu übertreffen sein dürfte. Schillers Projekt, den in seine Triebe verschlungenen Menschen gleichzeitig als geistiges Wesen zu erfassen, findet einen glücklichen Ausgang im Nachdenken über das Spiel, das Leben in seine Abhandlung brachte und Brücken schlug zwischen Geist und Materie. Bei diesem Projekt gilt es einzuhaken, hier und jetzt.

Schillers Spieltrieb wird gerne mit »Flow« übersetzt. Spiel sei Flow, weil er die Wettkämpfer Raum und Zeit vergessen lässt, ob im Basketball oder im Fußball oder bei jenen beiden Langstreckenschwimmern, die bei den Olympischen Spielen vor einigen Jahren gleichauf ins Ziel flogen und über dieses hinaus Hals über Kopf zwei volle Bahnen weiterschwammen. Im Flow kommt der Mensch zweifellos nah ans Spiel heran, es geht nicht mehr ums Gewinnen, die Spieler werden von etwas Höherem erfasst. Doch Spiel ist nicht Flow. Flow ist Lebendigkeit bis zur Ekstase im über­irdischen Glück. Spiel ist mehr.

Spielen ist der Blick eines Kindes, in dessen Augen eine Idee aufblitzt, die es als Wirklichkeit erlebt, noch bevor der Wunsch den kleinsten Muskel bewegt hat. Spiel ist die junge Forelle, die übermütig durch das Wasser schießt und im Rachen eines Raubfischs verschwindet. Spielen ist, wenn ein kleines Kind Wasser in eine abgespulte Klorolle gießt und Bauklötze staunt, weil es unten herausfließt. Spiel ist das schweigsame Ausatmen auf einem Gipfel, auf dem ein Mensch angekommen ist, der nicht die Absicht hatte, ihn zu besteigen.

Spiel ist die Pause in einem Schubertquartett – die Musik verklingt und der Flügelschlag des Geistigen hebt an. Spiel ist die Beziehung zwischen einem Kind und jemand oder etwas, der oder das auf irrationale Weise in diesen kleinen Menschen vernarrt ist.

Spielen ist die schönste aller ansteckenden Krankheiten. Vielleicht werden wir beim jüngsten Gericht nicht gefragt, was unsere guten und schlechten Taten waren, sondern wo wir überall gespielt haben und wo nicht.

Zum Autor: Albert Vinzens ist Philosoph, Autor, Alpinist und Vater von vier Kindern. Er ist Dozent am Rudolf Steiner Institut Kassel und hat einen Lehrauftrag an der Universität Innsbruck für Anthropologie und Pädagogik. 2011 erschien das von ihm herausgegebene Buch »Lass die Kinder spielen«.