Die Brücke, die das Interesse baut – Eltern und Lehrer

Christof Wiechert

Als vor vielen Jahren der Arzt und Heilpädagoge Bernard Lievegoed gefragt wurde, wie denn eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrern aussehen könne, schilderte er den Kollegen das »goldene Dreieck«. Oben an der Spitze denke man sich die Schüler, rechts unten die Lehrer, links die Eltern. Nur wenn alle drei Schenkel dieses Dreiecks funktionierten, sei eine pädagogisch fruchtbare Arbeit möglich. Wenn nur eine der Verbindungslinien gestört sei, sei der ganze pädagogische Prozess gestört.

Jeder, der mit Schule und Erziehung zu tun hat, sieht die Richtigkeit dieses Bildes sofort ein. Was sind also die Bedingungen für ein ersprießliches Zusammenwirken von Eltern und Lehrern? Es ist offensichtlich, dass Eltern ihr Wissen über das, was in der Schule, im Unterricht geschieht, immer aus zweiter Hand haben. Deshalb ist es wichtig, eine Pädagogik der offenen Tür zu praktizieren. Eltern und Kollegen können zu jeder Zeit unangemeldet ins Klassenzimmer kommen und einen Teil des Unterrichts mitmachen. Manche unserer niederländischen Schulen hatten buchstäblich offene Türen. Die Eltern, die vorbeischauten, bekamen einen Eindruck vom lebendigen Pulsieren eines Unterrichts, davon, wie viel Vorgänge zugleich bewältigt werden müssen. Diese Erlebnisse wirkten stark. Die Eltern sahen, worum es in Wirklichkeit geht.

Aber warum sollen nicht auch Kollegen sich gegenseitig im Unterricht besuchen? Warum nicht diese einfache Form der Intervision anwenden und Kollegen zur gegenseitigen Hospitation einladen? Und nachher zusammen einen Kaffee trinken und sich die Frage stellen: Warum machst du das so? Das alte Bild des Klassenlehrers als eines einsamen, unnahbaren Königs, der immer Recht hat in seinem Reich hinter verschlossener Tür, gilt nicht mehr. Der König ist tot, es lebe der König! Der »neue« König ist offen, transparent, verstehbar in seinen Handlungen, zugänglich, er sieht ein, dass er nicht alles kann und weiß, aber er weiß sich bei dem, was er nicht kann, zu helfen. Er hält jede Woche anderthalb Stunden am Ende eines Wochentages frei. Eltern können dann vorbeikommen, eine Art informelle Sprechstunde wahrnehmen. Niedrigschwellig, keine Anmeldung. Wenn keiner kommt, bereitet er sich vor oder korrigiert Hefte. Es ist so herrlich für den Lehrer, für die Eltern einfach zugänglich zu sein, etwas besprechen zu können.

Der »neue« König hält drei große Elternabende im Jahr ab, die er zeitig ankündigt, zu denen er alle Eltern erwartet. Über die Klasseneltern können die anderen Eltern Themen auf die Tagesordnung setzen. An einem solchen Abend fragt er die Eltern, wie es den Schülern geht. Er selber entwickelt an Hand von Zeichnungen oder Malereien ein für alle Ohren interessantes Entwicklungsbild der individuellen Kinder und Schüler, ohne auch nur eines zu vergessen und selbstverständlich ohne auch nur einen Hauch von Negativität. Dann schildert er, wie die Lernziele der letzten Monate erreicht wurden und welche in den kommenden Monaten erreicht werden sollen. Klassenfahrten sollen kein Hauptthema an einem Elternabend sein. Zeitverschwendung! Das bespricht man an anderer Stelle, zum Beispiel brieflich oder per E-Mail. Selbstverständlich werden keine Probleme besprochen. Wenn es die gibt, werden sie zwischen den Parteien in kleinem Kreis ausgemacht. Man lädt nicht die komplette Elternschaft einer Klasse ein, um irgend ein Problem zu besprechen. Das löst man nebenbei mit den Beteiligten. Wir sollten immer davon ausgehen, dass Eltern genau so viel zu tun haben wie wir (oder mehr)! Also werden wir dafür Sorge tragen, dass der Elternabend vor allem interessant und abwechslungsreich ist, eigentlich so fröhlich und gut gelaunt wie der Unterricht!

Auch wird der »neue« Lehrer nicht das Telefon benutzen, um sich bei Eltern über das Verhalten oder Benehmen von Schülern zu beschweren. Waldorfeltern brauchen, wenn die »neuen« Lehrer da sind, keine Angst mehr vor dem Telefon zu haben! Die Lehrer lösen ihre Probleme selber, das gehört zum Beruf. Wie viele Eltern sind nicht durch die Jahre vom Waldorftelefon regelrecht belagert worden!

Kleine Elternabende zu Hause

Daneben aber organisiert der transparent handelnde Lehrer informelle Elternabende bei immer anderen Eltern zu Hause. Da kommt zusammen, wer Lust hat und man spricht zusammen (keine Lehrervorträge!) über das, was die Eltern beschäftigt. Wie spät sollen denn Drittklässler schlafen gehen und wie? Wie viel Taschengeld ist gesund für einen Fünftklässler? Was unternehmen wir, damit es keinen »Kleidermarkenterror« gibt? Wie gehen wir zu Hause und unterwegs mit den Medien um? Ab wann muss ein Kind »unbedingt« ein Smartphone haben? Solche Abende sind erfrischend, vor allem, weil der Klassenlehrer da nicht als Autorität auftritt, sondern mit den Eltern Gesichtspunkte entwickelt, die man im täglichen Leben beachten könnte.

Und am Ende des Jahres organisieren wir für die Eltern bei Eltern mit einem schönen Garten eine Jahresendparty, bei der wir nicht über Pädagogik sprechen, sondern uns darüber freuen, dass wir zusammenwirken können und ein gutes Schuljahr für die Kinder und Schüler hinter uns haben. So entsteht ein Kreis des gegenseitigen Wahrnehmens und Vertrauens. Und wenn es dann mal brennt, sind viele zur Stelle und man hilft sich gegenseitig, das Nötige zu tun.

Selbstverständlich hat der »neue« Lehrer alle Kommunikationsmittel, die man heute benutzt. Zugleich aber wird er die Schule bitten, ein für die Schule verbindliches »E-Mail-Protokoll« und ein Protokoll für den Gebrauch der sozialen Medien zu erstellen, das festlegt, was im Lehrer-Eltern-Austausch auf elektronischem Weg verhandelt wird und was nicht. Dies beugt großen Kollateralschäden im zwischenmenschlichen Verkehr vor. Für den Schutz der Schüler und der Schule empfiehlt sich ein regelmäßiges Wahrnehmen dessen, was über Schüler und Schule in den sozialen Medien stattfindet.

Es wird in Zukunft überflüssig sein zu sagen, dass es vor allem die Lehrertugend des Interesses ist, das die Brücke zu den Eltern baut.

Bevor diese Brücke nicht gebaut ist, kann kein Verständnis entstehen und somit keine Zusammenarbeit. Man bedenke nur, im Elternhaus drückt sich doch der »karmische Wille« des Kindes, unserer Schüler aus: Bei diesen Eltern möchte ich sein! Das kritisieren, heißt den Schüler in Frage stellen.

Das ist die neue Bedeutung des schrecklichen Wortes »Elternarbeit«. Elternarbeit darf nicht darin bestehen, die Eltern davon überzeugen zu wollen, dass wir Recht haben. Elternarbeit, wenn man das Wort unbedingt weiter verwenden will, soll die Einladung sein, über die Brücke des Interesses Erziehungspartner zu werden – die Eltern aus der Liebe zu ihren Kindern, die Lehrer aus der Liebe zu ihrem Beruf und zu den ihnen anvertrauten Kindern. Die Eltern sind die natürlichen Erzieher, wir die »kultürlichen«. Eine perfekte Partnerschaft!

Nun kann es immer Verwerfungen geben, die ganz verschiedene Ursachen haben. Es ist auf jeden Fall wichtig, dass die Eltern »lernen«, sich deutlich und zeitnah zu artikulieren bei dem, was sie zu beanstanden haben. Ist das ausgesprochen, vereinbart man ein Gespräch. Bei sogenannten »schwierigen Gesprächen« bitten wir die Eltern, dass wir ein Paar Ohren extra, also einen Kollegen mitnehmen dürfen. Die Eltern sind herzlich eingeladen, auch jemanden zu dem Gespräch mitzunehmen. Hat das Gespräch große Konsequenzen, sollte ein Protokoll erstellt werden, das von allen Gesprächsteilnehmern unterschrieben wird.

Wird ein Kollege grundsätzlich von den Eltern in Frage gestellt, sollte die Schulleitung den Kollegen »aus dem Wind nehmen«, bis eine Klärung herbeigeführt ist. Es ist eine wichtige Angelegenheit: Eltern können in so einer Angelegenheit Recht haben, sie können auch daneben liegen. Mit anderen Worten: Man vermeide vorgefasste Standpunkte. Urteilsfähigkeit ist gefragt. Man muss sich fragen, entsteht diese im ganzen Kollegium oder finden wir eine Gruppe, die sich im Auftrag des Lehrerkollegiums um solche Fälle kümmert? In all diesen Angelegenheiten ist Besonnenheit und zugleich zeitnahes Handeln gefragt. Ein wesentliches Hilfsmittel ist das, was Steiner als »moralische Phantasie« bezeichnet hat. Das heißt, bei der Lösung eines Problems bin ich mir immer beider Konfliktparteien bewusst, aus meiner moralischen Autonomie versetze ich mich in alle Gegensätze, die vorhanden sind, und finde mit einem beweglichen Vorstellen und Empfinden Wege der Lösung. Vieles an den Schulen ist in diesen Angelegenheiten zu strukturiert. Konflikte strukturiert anzugehen, kann helfen, es kann genau so gut die Gegensätze verschärfen und Lösungen im Wege stehen. Immer sollte das menschliche Maß gelten.

Waldorfschulen haben neben einer pädagogischen Mission auch eine soziale. Und die kommt darin zum Ausdruck, wie die Schulen sich zur sozialen Wirklichkeit, zum sozialen Umraum stellen. Da steht an erster Stelle eine offene Beziehung zu den Eltern. Auch wenn Eltern all unseren Erziehungsidealen widersprechen: Sie werden erst Erziehungspartner, wenn sie sich von der Schule angenommen fühlen.

»Elternarbeit« kann ein giftiges Gemisch von Antworten auf nicht gestellte Fragen, von impliziten Forderungen und unausgesprochenen Vorwürfen sein. Am besten man lässt dieses Schreckenswort fallen. Wie wäre es mit »partnerschaft- licher Verständigung«? Viel Waldorfzukunft hängt auch hiervon ab: Finden wir den Weg zu den Herzen der Schüler und Eltern!

Zusammenfassung eines Vortrages auf dem Bundeskongress 2014 in Dresden