Die Sehnsucht hinter dem Streit

Angelika Ludwig-Huber

In jedem Konflikt, in jeder Krise steckt die Möglichkeit einer neuen Begegnung. Oft liegen ihnen nur Missverständnisse zugrunde, deren Aufklärung ein neues Licht auf die zwischenmenschlichen Beziehungen werfen kann, oft aber auch der Wunsch nach Veränderung. Selbst schlimme Fälle von Mobbing oder gar Cybermobbing können die Beteiligten dazu aufrufen, aus ihren Rollen herauszutreten und Verantwortung für sich und ihr Handeln zu übernehmen. Denn im Grunde wollen sie das, auch wenn es zwischendurch mal ganz anders ausgesehen hat – warum auch immer.

Tunnelblick und dunkle Brille

Wir sind allerdings, ob jung oder alt, als Betroffene im akuten Konfliktgeschehen oft nicht in der Lage, auf unsere Fähigkeiten der Konfliktlösung zurückzugreifen. Wenn mich ein Konflikt wirklich gepackt hat – wenn ich auf Facebook zum Beispiel einen Kommentar zu meinem Photo gelesen habe, der mich verletzt – dann bin ich nicht immer in der Lage, freundlich auf den Schreiberling zuzugehen und ihn zu fragen, wie er das genau gemeint habe und ob wir das nüchtern klären könnten. Möglicherweise bin ich dann nur noch fähig, den anderen als die Inkarnation des Bösen zu sehen, mein archaisches Notfallsystem zu aktivieren, und schon ist der Konflikt eine Stufe weiter eskaliert. Und ganz schnell sind auch andere mit im Boot, solidarisieren sich, bilden Gruppen, die nur noch übereinander, aber nicht mehr miteinander sprechen, und die Konfliktdynamik nimmt ihren Lauf.

Interesse statt Vorwurf

In solchen Momenten kann man sich über Schüler oder Schülerinnen nur freuen, die wissen, dass sich hinter jeder – auch verletzenden Äußerung – irgendetwas Wichtiges oder gar eine Not verbirgt, und dass es Möglichkeiten gibt, den Blick darauf zu lenken. Natürlich nicht, indem man bei Facebook postet: »Junge, fehlt Dir vielleicht Aufmerksamkeit?«. Sondern vielleicht eher dadurch, dass man mit der Ahnung arbeitet, dass sich hinter einer schrägen Äußerung vermutlich etwas verbirgt, was der sich Äußernde aber nicht artikuliert hat. Hilfreich kann dabei ein Hinweis Rudolf Steiners sein, der davon handelt, wie man Vorurteile überwindet: »Ich bin als vorurteilsvoller Mensch geboren und muss mir die Gedankenvorurteilslosigkeit im Leben erst erwerben, und wodurch kann ich sie erwerben?

Einzig und allein dadurch, dass ich nicht nur Interesse entwickele für dasjenige, was ich selber denke, was ich selber für richtig halte, sondern dass ich selbstloses Interesse entwickele für alles, was Menschen meinen und was an mich herantritt, und wenn ich es noch so sehr für Irrtum halte …« (GA  193)

So weit, so gut. Aber wie lernt man dieses besondere soziale Interesse, das für Schülermediatoren unabdingbare Voraussetzung ist? Ich merke immer wieder, dass es gar nicht so leicht ist, das zu beschreiben. Eigentlich muss man einfach anfangen und üben: Dinge nur wahrzunehmen, ohne sie zu beurteilen, ist der erste Schritt. Fragen zu stellen und aktiv zuzuhören, könnte der zweite sein. Dann das Ganze von einer ungewohnten Seite aus anzuschauen, also eine andere Perspektive einzunehmen. Und dann vielleicht die Frage zu stellen: Wozu könnte das, was da gerade passiert, jemandem wichtig sein? Und gäbe es nicht auch andere Möglichkeiten, das dahinter liegende Anliegen zu erfüllen?

Auf die Haltung kommt es an

Ein solcher Weg führt nicht nur zu einer neuen Betrachtungsweise, sondern zu einer anderen Haltung: Man befreit sich von Vorurteilen, beginnt zu fragen, entwickelt Interesse … und steht lösungsorientiert und phantasievoll bereit. Diese Bereitschaft entwickeln Jugendliche, die als Mediatoren arbeiten: Die aktuelle Not oder das Anliegen von anderen anzuerkennen, sie zu begleiten und zu unterstützen, ohne ein Urteil zu fällen, gemeinsam nach neuen Wegen zu suchen, wie eine Krise verändert, ein Konflikt gelöst oder eine schwierige Situation verantwortlich und gut für alle Beteiligten bereinigt werden kann. Schülermediatoren schlichten keinen Streit – daher ist dieser Begriff eigentlich nicht zutreffend.

Schlichten würde ja bedeuten, dass sie sich über eine Situation stellen, diese beurteilen und dann aufgrund irgendeiner Berufung oder eines Mandates einen Schlichterspruch aussprechen. Das ist aber nicht gemeint. Schülermediatoren unternehmen zunächst einmal eine gewaltige Arbeit, am eigenen Urteil, meist Vorurteil zu arbeiten. Das bedeutet, Achtsamkeit und Bereitschaft zu entwickeln, sich auch für das zu interessieren, was man am anderen für falsch oder schlecht hält. Das ist im Wesentlichen der Inhalt einer guten Ausbildung von Schülermediatoren. Dabei geht es nicht in erster Linie um die perfekten Methoden oder die Beherrschung der verschiedenen Phasen eines Klärungsgesprächs, sondern um eine mediative – eben vermittelnde – Haltung: die Haltung der Vorurteilslosigkeit und des einfühlenden Verstehens, die es ermöglicht, gemeinsam neue Wege zu finden. Daraus kann die Erfahrung entstehen: »Vielleicht war das gar nicht so schlecht, dass wir unseren Crash hatten, denn jetzt konnten wir endlich mal klären, was zu klären war.« Oder das Erlebnis: »Wir haben uns neu kennen und verstehen gelernt.« Mitunter reicht es einem Mitschüler auch schon, wenn ihm ein anderer ein offenes Ohr geliehen hat, damit er danach wieder kraftvoll die eigenen Ressourcen aufschließen kann.

Klare Haltungen strahlen aus. Das kann man spüren, wenn es aktive Schülermediatoren gibt, die auch Raum für ihre Arbeit bekommen. Denn eigentlich ist sie längst da, diese Haltung: Kinder und Jugendliche haben den großen Vorteil, dass sie noch nicht durch Alltag und Routine in bestimmten Mustern der Konfliktlösung fest gezurrt sind wie wir Erwachsenen. Das ist deutlich spürbar in jedem Mediationsprozess: Es ist für jeden Einzelnen eine Entlastung, wenn es bei Konflikten nicht darum geht, »Schuldige« zu finden, sondern einander im jeweiligen Anliegen zu verstehen. Das kann Augen, Ohren und Herzen öffnen und eine unglaubliche Kreativität entfachen.

Wie oft habe ich mir gemeinsam mit Jugendlichen schon gewünscht, dass die Politiker in dieser Haltung miteinander umgehen mögen. Das wird wohl ein Traum bleiben, es sei denn, Schüler und Schülerinnen dürfen flächendeckend die Erfahrung machen, dass Konflikte nicht dazu da sind, dass wir sie anheizen und eskalieren lassen, sondern dass sie deshalb entstehen, um an ihnen neue Erfahrungen zu machen.

Gewisse Voraussetzungen müssen jedoch geschaffen werden. Eine ist, das Interesse aneinander und die Bereitschaft zuzuhören und sich aufeinander einzulassen. Eine weitere, dass wir Konflikte respektvoll ernst nehmen, weil wir nie wissen, warum sie auftreten (oder geschickt werden) und was wir an ihnen lernen können. Aber wenn wir uns ihnen achtsam zuwenden, beginnen wir zu ahnen, dass sie nicht umsonst auftreten.

Zur Autorin: Angelika Ludwig-Huber ist Lehrerin an der Freien Waldorfschule in Karlsruhe und Mitbegründerin von INTEResse, einem gemeinnützigen Verein, der Erwachsene und Schüler zu Mediatoren ausbildet.

www.interesse-ev.de

Literatur:

Rudolf Steiner: Der innere Aspekt des sozialen Rätsels, Zürich, 11.2.1919, GA 193