Feigen am Euphrat – Holunder am Neckar: der Weg von Hamza Salama

Meike Bischoff

Hamza ist seit drei Jahren Schüler der Waldorfschule Uhlandshöhe. Sein Tutor Douglas Kennedy bat mich, ihn bei der Vorbereitung auf das Abitur im Fach Deutsch zu unterstützen. Hamza ist Syrer. Eigentlich sind wir Iraker, erzählt er. Bei einer großen Überschwemmung rissen die Fluten des Euphrat Ländereien seines Großvaters mit sich. Da verließ er, der Vater seines Vaters, das Land und zog über die Grenze südwärts. Er, Hamza, spreche eher einen irakischen Dialekt, aber die Großfamilie bildet ein wahres Orchester unterschiedlicher Klangfarben des Arabischen. Ich staune über das Sprachbewusstsein eines so jungen Menschen. »Wir sind eine Welt, wir sind Brüder«, höre ich, »Iraker oder Syrer, das ist nicht entscheidend.« Für die Sprache haben politische Grenzen keine Bedeutung, sie beeinträchtigen, trotz aller Auseinandersetzungen, das Grundgefühl der Zusammengehörigkeit nicht. Der Koran und seine Sprachkraft unterstützen es.

In der Familie Salama sind die Zwillinge Hamza und Omar die Jüngsten. Eine von den drei älteren Töchtern lebt mit ihrer Familie in kurdischem Gebiet, sie spricht kurdisch, also eine indoeuropäische, nicht arabische Sprache. Von den fünf Söhnen ist der zweitälteste Bauingenieur. Er arbeitete für die UNO in Damaskus, wurde eines Nachts festgenommen. Monatelang versuchten die Eltern herauszufinden, wohin er gebracht worden war, ohne Erfolg. Dem Kerker und der Folter entronnen, flüchtete er zu seinen Eltern. Von den Qualen der Monate des Eingepferchtseins auf engstem Raum habe der Bruder nie erzählt. Noch lange Zeit schlief er nur zusammengekauert wie ein Knäuel. Die Eltern waren inzwischen schon zweimal vor dem IS geflohen und lebten in Albsera. Auch dieses Dorf geriet in die Hände des IS. Die Schulen wurden geschlossen, den sechzehnjährigen Zwillingen, die kurz vor der Abschlussprüfung ihrer Schulzeit standen, drohte der Militärdienst. Für den Vater ein eindeutiges Zeichen: »Hier gibt es keine Zukunft für euch.« Er verkaufte Land, um den Söhnen die Flucht zu ermöglichen. Das Ziel war nicht Deutschland, nein, ihr Ziel war Stuttgart! Das riet ein Vetter, der schon seit vielen Jahren in Berlin lebt.

Von Syrien nach Stuttgart

Flucht ist ein Aufbruch ins Ungewisse: Ibrahim, Ahmed, Hamza und Omar verließen ihre Eltern, ihre Heimat. Ibrahim versprach dem Vater, auf die Brüder aufzupassen.

Der Weg ins Exil wurde zu einem Kampf ums Überleben, Kampf mit der Natur und mit anderen Menschen. »Wir hatten Angst, zu ersticken (in den LKWs), wir hatten Angst zu ertrinken (im Schlauchboot), wir hatten Angst, festgenommen zu werden, wir hatten Angst, uns zu verlieren. Wir hatten Angst und wir erlebten viel Hilfe, immer wieder, wenn die Gefahr groß war«, und so erreichten sie Stuttgart. Das kostbarste Gepäckstück der Brüder war ihr Handy: die Verbindung zu ihrem Zuhause, dorthin, wo sie aufgewachsen waren. Wenn Hamza davon erzählt, leuchten seine Augen. Und er spricht noch schneller als sonst. Mehr als tausend Bilder hat er auf seinem Handy. Sie zeigen das geräumige elterliche Haus und den großen Garten mit Palmen und vielen Obstbäumen; wie köstlich war das Ernten! Wie köstlich die Feigen! Und die Schafe!

Beide Eltern haben unterrichtet, der Vater arabische Sprache und Literatur in einem Kulturzentrum, dessen Leiter er war, die Mutter Biologie, Mathematik und auch Arabisch. Sie erlebte ihre Kindheit und Jugend in Marokko, wohin ihr Vater als Arabischlehrer gerufen worden war, nachdem die Franzosen das Land verlassen hatten.

So brachte sie in das Familienleben in Syrien Bilder, Gerüche und Töne des Maghreb, der maurischen Kultur. Die Mutter setzt sich für die Rechte der Frauen ein. Stolz zeigt Hamza ein Foto von ihr.

Nicht viel Positives weiß Hamza zu berichten von seiner Schulzeit in Syrien. Auswendiglernen bestimmte den Schulalltag. So hat er es erlebt. Nach Ausbruch des Krieges fand kein regelmäßiger Unterricht mehr statt. Die Mutter und der älteste Bruder waren jetzt ihre Lehrer. Der Bruder habe ihnen die Mathematik viel besser erklären können als die Lehrer. Am 21. März 2015 nachts brachen sie auf. Anfang Mai landeten sie in Stuttgart. Das Angestrebte erhielt nun ein Gesicht. Nicht gleich, denn die Polizei schickte sie nach Karlsruhe. Dort wurde bemerkt, dass die Zwillinge noch minderjährig waren; sie kamen also zurück nach Stuttgart in die Notaufnahme in der Kernerstraße. »Ohne meinen großen Bruder ...« sagt Hamza, »da habe ich geweint!«.

Lernen in aller Konsequenz

Stuttgart war das eine Ziel, das andere, größere: Lernen, einen Schulabschluss erreichen, das Abitur, das in Syrien die Flucht verhindert hatte. Das wurmte. »Immer war ich der Beste gewesen!«

Das Wichtigste zunächst: die Sprache lernen. Sie konnten kein Wort Deutsch, hatten geringe Englischkenntnisse. »Je suis Hamza«, ein schlichter, aber wichtiger Satz, fasste die Französischkenntnisse zusammen. Sie suchten keine Arbeit, sie wollten lernen.

2015: Kyra Karastogiou, Klassenlehrerin an der Waldorfschule Uhlandshöhe, hatte in den Sommerferien in Athen die Flüchtlingsnot erlebt, hatte dort in den Straßen bei 40° im kärglichen Schatten syrische Frauen und Kinder kauern sehen, denen griechische Frauen Suppe und Getränke brachten. Diese Bilder reisten mit ihr zurück. In Stuttgart bummelte sie durch die Innenstadt, betrat einen kleinen Laden, schaute sich um und ihr Blick fiel auf ein kleines DIN-A5-Heft. ÜBERMORGEN las sie, und Flucht zu uns. Sie blätterte darin und stieß auf ein Interview: Drei Brüder erzählten von ihrer Flucht aus Syrien und wie es ihnen in Stuttgart erging. Von den Dreien waren die Zwillinge noch minderjährig. Denen kann die Waldorfschule helfen, dachte sie. Und sie handelte. Beharrlich telefonierte sie sich durch die Ämter hindurch bis zu den Betreuern der beiden im Jugendamt und sie sprach mit Douglas Kennedy, der die 11. Klasse in ihrer Schule betreute. Dessen Nachbarin arbeitete auf dem Jugendamt. Er sprach mir ihr, sie mit ihm über diese beiden syrischen Jungen: Omar und Hamza wurden in die 11. Klasse aufgenommen.

Schon nach wenigen Tagen wusste Hamza: An dieser Schule will ich bleiben! Er verstand zunächst nichts im Unterricht, hörte aber aufmerksam zu – wie die Lehrer berichteten – und lernte und lernte. In fast besessener, rastloser Konsequenz durchkletterte er die Stufenleiter der Deutschkurse bis zur obersten Sprosse. Abends, so erzählt er, habe ein Gewirr von Sprachen, von Ideen in seinem Kopf gewirbelt. Er schlief wenig und hatte oft Kopfschmerzen. Aber er wollte. Und hatte Kraft.

Melden im Unterricht? »Nein«, sagt er, »das ging nicht. Mein Herz klopfte wie verrückt, wenn ich etwas sagen wollte.« Wissbegier und Scheu lagen im Widerstreit. Er arbeitete fleißig, erledigte die Aufgaben pünktlich, war stets geistesgegenwärtig: Ein Hinweis genügte und ein Fehler war ausgemerzt. Manchmal hatte er das Bedürfnis zu sagen: »Hört auf, nett zu mir zu sein. Ich bin ein Flüchtling, ja, aber ich bin ein normaler Mensch!« Wegen seines Schicksals bemitleidet zu werden ist ihm unerträglich.

Als Thema für seine Jahresarbeit in der 12. Klasse wählte er Eurythmie. Zwei Motive bestimmten seine Entscheidung. »Ich wollte etwas von meiner islamischen Kultur vermitteln.« So beschäftigte er sich mit dem Sufi-Derwischtanz. Der Tanzende dreht sich im Kreis an einer Stelle, übt innere Ruhe und äußere Bewegung. Hamza schickte seine Maße einem Schneider in Damaskus, den seine Schwester ausfindig gemacht hatte. Der nähte ihm das Gewand. Das könne kein Schneider in Deutschland! Hamzas Ziel war es, diesen Tanz mit Eurythmie zu verbinden, sein zweites Motiv.

Die Eurythmie war von hoher Bedeutung für ihn. Es war der Unterricht, in dem er sich auf gleicher Ebene mit den Mitschülern fühlte, diese »Sprache« mussten auch sie lernen, was nicht jedem leicht fiel. Da war er nicht der Flüchtling. In diesen Stunden kam er innerlich zur Ruhe. Hamza überträgt diesen Tanz um sich selbst in den Raum, denn Eurythmie ist Bewegung im Raum.

Die Vorbereitung auf das Abitur brach Hamza zunächst ab. Im zweiten Anlauf kam er in eine andere Klasse. Er fühlte sich freier unter den neuen Klassenkameraden. Sie hatten seine sprachlichen Anfangsschwierigkeiten nicht miterlebt, die es ja auch den anderen schwer machten, ihm seinem Alter und schon gar seinen Lebenserfahrungen gemäß zu begegnen. Heute spricht er nahezu fehlerfrei, er beobachtet sich genau beim Sprechen. Und Hamza schaffte das Abitur.

»Haben Sie Sehnsucht nach Ihren Eltern?« – »Wäre ich bei meinen Eltern in Syrien geblieben, dann wäre ich nicht der, der ich heute bin: ein erwachsener Mensch. Ich bin Assad dankbar, dass er mich vertrieben hat, denn all das, was ich hier gelernt, die Menschen, die ich hier kennengelernt habe, verdanke ich dieser Tatsache. Es ist mein Schicksal, das mich hierherführte.«

Dass er seinen Eltern nicht beistehen kann in der Bewältigung ihres Alltags, schmerzt ihn und er versucht immer, Geld zu verdienen, um es nach Damaskus zu schicken.

»Wohin geht nun Ihr Weg?« – »Ich werde Umwelttechnologie studieren. Das braucht Syrien für seinen Aufbau. Und das braucht die Welt. Eigentlich möchte ich Philosophie studieren. Mein Kopf ist so voller Ideen. Ich möchte Sprachen lernen, viele Sprachen! Auch Hocharabisch, das ich nicht kann. Kennen Sie Mahmud Darwish? Er ist der größte arabische Dichter heute«:

»Wie der Euphrat bin ich geworden.
Ich wandere zwischen Ufern durch die Länder.
Wer bin ich ohne Exil?«

Ich habe diesen Dichter durch Hamza kennengelernt.

Zur Autorin: Meike Bischoff war langjährig Französisch- und Deutschlehrerin an der Waldorfschule Uhlandshöhe.