Feinfühlig und interessiert. Elterngespräche im Kindergarten
»Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen«, schreibt Augustinus – das Buch, aus dem sie Wesentliches für ihre Biographie schöpfen, ergänzt die langjährige Kindergärtnerin Elke Leipold. Sie weiß, wenn das Kind in den Kindergarten kommt, bringt es schon viele Erfahrungen mit, die sein Wesen und sein Verhalten vorgeprägt haben. Um so wichtiger ist es für sie, auch die Eltern und das häusliche Umfeld durch Gespräche und Besuche kennenzulernen.
Schon im Aufnahmegespräch beginnt die Erziehungspartnerschaft
Ist das Kind im Kindergarten angemeldet und bekommt einen Platz im nächsten Kindergartenjahr, wird ein Aufnahmegespräch geführt. Einerseits können die Eltern Einzelheiten zum Alltag des Kindergartenlebens erfahren, andererseits hören die Erzieherinnen, wie das Kind sich bislang entwickelt hat. Die Anamnese gibt Auskunft über die Besonderheiten der Geburt, des physischen und seelischen Werdegangs des Kindes, das dabei am besten nicht in Hörweite ist. Feinfühlig interessiert und liebevoll sollen dabei die Eltern befragt und gehört werden. In der Regel ist es zunächst ein freundliches gegenseitiges Wahrnehmen. Manchmal aber kann durchaus eine gewisse Intensität der Fragen notwendig sein. »Bei meinem Kind ist alles in Ordnung. Doch, es liegt nichts Auffälliges vor«, wurde von einer Mutter mehrmals wiederholt. Eben deshalb traf sie ein fragender Blick und ein leichtes »Nachbohren« brachte zutage, dass der kleine Junge wegen einer kleinen Abnormalität am Füßchen operiert werden musste. Er hatte alles gut überstanden und war in seiner Entwicklung kaum beeinträchtigt. In einem anderen Fall kam erst nach und nach heraus, dass das Kind Sprachschwierigkeiten hatte: eine Blockade, die bearbeitet werden musste. Ein anderes hörte nicht so gut und wiederum andere haben – zunehmend – fein- und grobmotorischen Nachholbedarf. Es ist eine gute Voraussetzung für das Wegräumen von vielen Hemmnissen, wenn Eltern und Erzieher offen miteinander umgehen und eine Erziehungspartnerschaft bilden.
Hausbesuche dienen nicht der Kontrolle
Als an einem Informationsabend vom Hausbesuch die Rede war, meinte eine Mutter: »Aber wir haben einen Fernseher.« Scherzhaft riet ich ihr, ihn doch mit einem Tuch zuzudecken. Nein. Die Kontrolle über die häuslichen Gepflogenheiten technischer Art ist nun wirklich nicht Sinn und Zweck eines Besuches. Wenn dann beim Besuch die Mutter das Kind auffordert: »Du kannst doch mit Frau Soundso mit deiner Holzeisenbahn spielen« und das Kind sagt: »Nein, mit meiner Duplo« und diese nicht aus dem Kinderzimmer, sondern aus dem elterlichen Schlafzimmer hervorzaubert, ist das eben lebensnah. Erzieherinnen kommen nicht mit rümpfender Nase, sondern suchen den häuslichen Kontakt zu Kind und Eltern kurz vor dem ersten Tag des Kindergartenbesuchs. Wenn zu Hause jemand akzeptiert ist, fördert dies das Vertrauen des Kindes. Außerdem ergeben sich im gemeinsamen Spiel Anknüpfungspunkte, den Start ins Kindergartenleben und die Trennung von Mutter oder Vater, die trotz aller Vorsorge nicht immer ohne Tränen abgehen, zu erleichtern.
Warum Elterngespräche manchmal schwierig sind
»Tür- und Angelgespräche« lassen sich leicht führen, sind spontan und oft unmittelbar hilfreich. Doch können sie nicht die strukturierten Elterngespräche ersetzen.
Diese allerdings sind oft schwieriger zu führen. Die Erzieherinnen sind meist die ersten, die aus pädagogischer Sicht von außen eine Beobachtung an die Eltern weitergeben, die diese aus ihrem häuslichen Blickwinkel nicht so machen können. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: Zum einen benimmt sich das Kind zu Hause und im familiären Umfeld anders als in einer Gruppe von zwanzig und mehr Kindern; zum anderen sind Eltern emotional eng mit ihrem Kind verbunden, so dass die Nähe zum Kind sie manche Dinge nicht wahrnehmen lässt. Darüber hinaus haben sie nicht den Vergleich mit anderen Kindern gleichen Alters.
Haben Eltern zu Hause Probleme mit ihrem Kind, kommen sie offen und mit Fragen zum Elterngespräch. Sie nehmen Rat und Hilfe gerne an. Benimmt sich das Kind zu Hause nahezu vorbildlich und schlägt nur in der Gruppe über die Stränge, haben es die Pädagogen weitaus schwerer, Hilfestellungen in der Erziehung zu geben – bis dahin, dass empfohlene Therapien nicht angenommen werden.
Einem Mädchen, das nicht so gut hörte und Schwierigkeiten in der sprachlichen Entwicklung zeigte, wurden so Heileurythmie und Logopädie verwehrt. Oder ein anderes Beispiel: Martin ist zu Hause ein lieber verständiger Junge, der phantasievoll allein spielt und sich fürsorglich gegenüber seinem kleinen Bruder benimmt. Im Kindergarten aber muss sich die Mutter beim Bringen und Abholen immer wieder Klagen anhören von anderen Eltern: »Martin hat meinen Jungen schon wieder gekratzt.« Auch habe er gezwickt, geschlagen, ausgelacht und ähnliches mehr wird ihr erzählt. Sie versteht es nicht.
Ihr lieber Martin, das kann sie sich gar nicht vorstellen und sie sucht die Schuld bei den anderen Kindern oder bestimmten Situationen: »Aber wenn ihn Thomas auch immer ärgert!« – Nein, muss ihr gesagt werden, die Regel ist, dass Martin mit den Auseinandersetzungen beginnt und dabei listig und einfallsreich ist. Wird er angesprochen, lenkt er geschickt ab, schließlich ist er ein durchaus intelligentes Kind.
Martin sucht Grenzerfahrungen in der Gruppe und geht dabei so weit, dass er sagt: »Ich schneide dir den Kopf ab, dann bist du tot.« Die Erzieherin tut gut daran, nicht mehr erschrocken zu sein, als unbedingt sein muss und ihm gelassen zu vermitteln, dass das nicht der richtige Weg ist, mit seinen Kameraden zusammenzuarbeiten. Die Aggression verpufft so schneller und für ein Weilchen ist Martin das reinste Lämmchen.
Zu Hause wurden mögliche Konfliktsituationen schon weit im Vorfeld wortreich vermieden. Dafür sah er die Streitereien in nicht kindgerechten Filmen bei den Großeltern, wie sich nach und nach herausstellte. Es wurde versucht, dies abzustellen, und darüber hinaus einigten sich Eltern und Erzieherinnen nach einiger Zeit auf »Rhythmische Einreibungen« als Therapie. Wer hätte es geglaubt: Martin wollte von sich aus mit einem Freund »auch mal zur Heileurythmie«. Er ist auf dem Weg.
Die Kinderkonferenz: ein hilfreiches Instrument
Um keine Irrtümer aufkommen zu lassen, muss erläutert werden, dass mit einer Kinderkonferenz im Waldorfkindergarten nicht ein morgendliches Treffen aller Kinder gemeint ist, bei dem diese sich entscheiden können, welchem Projekt sie sich an diesem Tag zuwenden wollen, wie zum Beispiel in einem Regelkindergarten mit offenen Gruppen. Eine Kinderkonferenz in waldorfpädagogischen Einrichtungen ist der Abschluss einer längeren, unauffälligen und dennoch gründlichen Beobachtung eines Kindes, einer Anamnese sowie einer respektvollen Einbeziehung der Eltern und ihrer Wahrnehmungen.
Alles wird zusammengetragen, eine künstlerische Betrachtung angeschlossen, und in einer würdevollen, wertschätzenden Art und Weise in der Kollegiumskonferenz erörtert. Gemeinsam erarbeiten die Kollegen eine Diagnose und suchen nach geeigneten Therapien. Diese in großer Ehrfurcht vor dem Kind vorgenommene Diagnostik wird wiederum den Eltern in einem gemeinsamen Gespräch mit Kollegen und Therapeuten erläutert. Selbstverständlich ist es den Eltern freigestellt, diesen Empfehlungen zu folgen.
Schulreif oder nur schulfähig?
In einem der letzten Elterngespräche im Kindergarten geht es um die Schulfähigkeit oder die Schulreife eines Kindes. Damit verbunden ist ein Aufzeigen der Schulmöglichkeiten, ohne dogmatisch zu sein. Die Kindergartenzeit wird noch einmal reflektiert und damit auch die Entwicklung des Kindes nach- und aufgezeichnet.
Einfach ist das Gespräch zumeist bei Kindern, die altersmäßig nicht in die »Kann-Zeit« der Regelschulen fallen oder bei denjenigen, die im September geboren sind und in der Grundschule genommen werden würden. Nur: Sind diese Kinder wirklich schulreif – oder nur schulfähig? Der Intellekt ist in fast allen Fällen kein Problem, aber ob Psyche und Physis mitmachen, ist oft eine Frage. Manche Eltern können es kaum erwarten, dass ihr Kind in die Schule kommt. Zum Glück gibt es auch solche, die ihrem Kind Zeit und Raum für eine altersgemäße Entwicklung lassen möchten.
Bei allen Kindern sollte darauf geachtet werden, ob sie grob- und feinmotorisch, sozial und sprachlich wach sind, ob sie aufmerksam mit allen Sinnen wahrnehmen und sich konzentrieren können.
Auch der Blick in die Zukunft sollte gewagt und geschwisterliche Konstellationen sollten berücksichtigt werden. Sehr hilfreich ist die Kooperation mit den Schulen, seien es Waldorf- oder Regelschulen. Ein Besuch des jeweiligen Aufnahmelehrers im Kindergarten mit anschließendem Gespräch ist ebenso wichtig wie die Einschätzung des jeweiligen Schularztes. Wenn man alles zusammenträgt, ergibt sich ein schlüssiges Bild, das den Eltern bei ihrer Entscheidung helfen kann. Geht dann das Kindergartenkind bei der Schulaufnahme frei auf seine Klassenlehrerin oder seinen Klassenlehrer zu, zeigt es sich schulreif.
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