Das Leben ist eine Herrlichkeit

René Madeleyn

Rainer Maria Rilke ist nach Goethe der wohl meistinterpretierte deutsche Lyriker in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Sich ihm im Film zu widmen scheint gewagt, war Rilke doch ein Meister der Intimität, maximal öffentlichkeitsscheu und dem Medium des Films und der Fotographie nicht zugeneigt.

Sünner lernt über das Werk des Religionsphilosophen Günther Schiwy Rilke als den immer Suchenden kennen, der sich mit allen Religionen verbunden fühlt und zugleich in keiner beheimatet ist. Sünner begibt sich im Film auf eine essayistische Lebensreise mit Rilke und sinnt in schönen, ruhigen, vielfach stehenden Bildern wichtigen Lebensmotiven Rilkes nach. Hans-Peter Bögel spricht immer wieder Texte und Gedichte, wohltuend schlicht, zu Herzen gehend. Auch die passende musikalische Untermalung unterstützt die gewollte »Langatmigkeit« des Films. Sünner findet sich wieder in dem jungen Rilke, den der frömmelnde, beengende Katholizismus der Mutter erdrückt und der dann auf den beiden Reisen mit Lou Andreas-Salomé in den Weiten Russlands »seinen« religiösen Seelenraum findet, mit einem Höhepunkt an der Schwelle zum neuen Jahrhundert im Erleben der russischen Osternacht in Moskau 1899. Dieses Auferstehungserlebnis prägt sein künftiges Leben und hinterlässt ein Gefühl tiefer Heimatverbundenheit mit diesem Land.

Von Russland aus führt uns der Autor direkt nach München und damit vollzieht sich in dem Film ein nicht nachvollziehbarer Bruch. Prägend für Rilke waren für weitere mehr als zehn Jahre zunächst Worpswede mit dem dortigen Künstlerkreis, auch Rilkes Eheschließung mit der Bildhauerin Clara Westhoff und deren Auflösung kurz nach Geburt der Tochter Ruth sowie die vielen Jahre in Paris mit der tiefen Beziehung zu Rodin. Hier hätte es, zumindest skizzenhaft, einer Überleitung zu den Jahren in München bedurft, die mit der Darstellung Alfred Schulers und der erwähnten Rezeption eines Vortrags von Rudolf Steiner in die Zeit des Ersten Weltkrieges fallen. Die beeindruckende Porträtbüste Alfred Schulers von Clara Rilke, die mit Rilke Vorträge Schulers besuchte, hätte dem Film gut getan und wäre eine schöne Ergänzung zu dem zweifelsohne interessanten Grab dieser merkwürdigen Persönlichkeit gewesen, einer Entdeckung Sünners, die, ebenso wie das Grab Wera Ouckama Knoops auch Kennern von Rilke unbekannt sein dürfte. Manche Details aus der Zeit in München sind ungenügend recherchiert, so hörte Rilke den Vortrag Rudolf Steiners über das Übersinnliche in der Kunst nicht im Café Luitpold, sondern im Kunsthaus »Das Reich«, in dem Alexander von Bernus einen Begegnungsraum bedeutender zeitgenössischer Künstler mit Anthroposophie schaffen wollte. Mit wunderbaren Bildern illustriert wird hingegen der Weg Rilkes von Duino, dem mächtigen Schloss und Inspirationsort der gleichnamigen Elegien an der Adria über Toledo und Cordoba nach Ronda beschrieben. Hier wird Landschaft zum Sinnbild übersinnlicher Wirksamkeit. Rilke studiert den Koran und fühlt sich in einer vorübergehend antichristlichen Haltung bestärkt durch den barbarischen Einbau einer Kirche in den grandiosen Komplex der Mesquita in Cordoba nach der Rückeroberung dieser Stadt durch die christlichen Heere.

Es folgt die Flucht in die Schweiz. Soglio wird symbolträchtig zu einem Stück unversehrter Welt. Später wird Rilke im Schloss von Muzot ein letzter Schutzort gewährt, in dem 1922 in einem ekstatischen Schaffensrausch die langersehnte Vollendung der Duineser Elegien, aber auch die Dichtung der Sonette an Orpheus als einer Art unsichtbarem Grabmal für die früh an Leukämie verstorbene 17-jährige Tänzerin Wera Ouckama Knoop gelingt. Den Lebensspuren dieses Mädchens folgt Sünner, sie war Spielgefährtin von Rilkes Tochter Ruth in München gewesen, bevor die Krankheit in eine quälende Leidenszeit mündete mit unvollkommenen Versuchen, sie durch eine fehleranfällige Strahlentherapie zu lindern. Rilke selbst beschreibt, dass die Liebenden und die Frühverstorbenen ihn in besonderer Weise inspiriert hätten und so schlägt Sünner in ergreifenden Bildern einen Bogen von den Sonetten an Orpheus zu Rilkes eigener Leukämie­-erkrankung mit den Sanatoriumsaufenthalten in Bad Ragaz und Val-Mont. Im Durchleiden qualvoller Schmerzen hat ihn in aufopferungsvoller Weise die ihn beständig umsorgende Freundin der Schweizer Jahre Nanny Wunderly-Volkart begleitet. Sie zu erwähnen wäre stimmiger gewesen als die Ägypterin Nimet Eloui-Bey, die eher zu den flüchtigen Beziehungen Rilkes zählte. In der Schlusssequenz des Films wird zu Rilkes erschütterndem letzten Gedicht »Komm du, du letzter, den ich anerkenne, heilloser Schmerz im leiblichen Geweb: wie ich im Geiste brannte, sieh, ich brenne in dir …« ein Bild von Rilke gezeigt, das sich von außen in Flammen auflöst, eine Szene, die sich tief einprägt.

»Das Leben ist eine Herrlichkeit« hat Rilke kurz vor seinem Tod geäußert, die kleinen und großen Dinge dieser Welt hat er in Kunst verwandelt und immer blieb er ein Fragender und Suchender. Das ist auch Sünner gelungen, in dieser Haltung des Fragens zu bleiben. Viele werden sich nach diesem Film wieder mit der Dichtung, den kostbaren Briefen und dem Leben dieses bedeutenden Künstlers beschäftigen wollen.

Engel über Europa – Rilke als Gottsucher: Ein Film von Rüdiger Sünner, 82 Min, DVD Absolut Medien

Buch zum Film: Rüdiger Sünner: Engel über Europa. Rilke als Gottsucher, 240 S. geb., 40 Abb., Europa Verlag, München 2018