Niemand will süchtig werden

Ute Hallaschka

Die zehnjährige Leidenserfahrung einer Familie mit ihrem drogenabhängigen Kind. Sowohl der Vater David Sheff, als auch sein Sohn Nic, haben unabhängig voneinander ihre Erlebnisse literarisch verarbeitet. Aus den beiden Büchern wurde im Drehbuch die Perspektive verschränkt, so dass abwechselnd aus der jeweiligen Sichtweise erzählt wird.

Der belgische Regisseur Felix van Groeningen bekennt sich ebenfalls ganz persönlich – in einer für ein Hollywoodprojekt sehr ungewöhnlichen Weise zu diesem Film. Er schildert, dass er den eigenen Vater sehr früh verloren hat und mit dem Gefühl lebt, der Vater könnte durch seine Filme weiter in ihm existieren und Anteil an seinem Leben nehmen. Van Groeningen bekam nach der Fertigstellung von Beautyful Boy selbst ein Kind, dazu schreibt er: »It is incredible to feel the joy of loving someone that much.«

Der Regisseur hat, ebenso wie die Darsteller die Familie Sheff aufgesucht und eine Weile mit ihnen gelebt.

Was diesen Film so besonders macht, ist die Erschütterung, die er im Zuschauer auslöst, das tiefe Mitgefühl, das ganz ohne die üblichen Sensationsmechanismen auskommt. Es ist im besten Sinne das geworden, was alle Beteiligten als ihre Intention formulieren: Ein dokumentarischer Spielfilm, der vermittelt, dass Drogensucht eine schwere Krankheit ist, die noch immer unter dem Vorurteil gesehen wird, der Betroffene hätte die Wahl des freien Willens: »No one chooses to be addicted.«

Auch die Familie mit ihrem Glauben an die unbedingte Kraft der Liebe zueinander, lebt lange mit der Illusion. Mit unendlichem Zartgefühl wird rückblickend gezeigt, wie aus einem wundervollen, begabten Kind ein schwerkranker Drogenjunkie werden konnte. Das Drehbuch vermeidet sorgsam alle Klischees der vordergründigen psychologischen Erklärungsmuster – auch in Bezug auf die Eltern, die geschieden sind. So versteht man ganz neu die Instinkte der gegenseitigen Schuldzuweisung als verzweifelten Versuch beider Eltern sich das Unerklärliche zu erklären. Der Zuschauer kann sich der Verzweiflung nicht entziehen, die er mit den Figuren teilt, doch ebensowenig der immer wieder wachsenden Hoffnung.

Der Vater dargestellt von Steve Carell (Foxcatcher), ist von Beginn an wie ein Schutzengel seines Sohnes. Selbst als er sich der bitteren Erkenntnis stellen muss, dass er ihm nicht helfen kann, in der äußersten Ohnmacht seiner Liebe verliert er nicht den innerlichen Kontakt, den er äußerlich kappen muss. Nic wird gespielt von Timothee Chalamet (Call me by your name). Dem jungen Darsteller gelingt das Kunststück, zu keiner Zeit die Sympathie des Zuschauers zu verlieren. Wir begleiten ihn durch die furchtbaren Abstürze. Immer wieder kehrt er nach Hause zurück, mit der Illusion, eine Auszeit im Kreis der Familie würde ihn stärken. Bis es wieder soweit ist und die Sucht ihn dazu treibt, sogar das Sparschwein der kleinen Geschwister zu plündern, um an Geld für Stoff zu kommen. Chalamet spielt wortlos die moralische Innenseite seiner Figur, die tiefe Scham, den Abscheu vor sich selbst. Im Ringen um seine Autonomie, mit dem Abgrund seiner Seele.

Auch dies kommt im Film zur Sprache: moderne Designerdrogen wie Crystal Meth wirken schneller, tiefer und unberechenbarer im Organismus. Was man bis heute weiß, ist die Rückfallquote wesentlich höher als bei bisherigen Stoffen.

Beautiful Boy zeigt nachdrücklich das eigentliche Phänomen der Sucht: die Seele wird buchstäblich zerrissen. Bewusstsein und Gefühlsleben der Person werden ausgeliefert an die tödliche Energie des versklavten Willens, der nur noch ein Ziel kennt: sich zu versorgen mit dem, was den Menschen umbringt.

Anders als zu Zeiten der Kinder vom Bahnhof Zoo ist das Drogenproblem aktuell in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Im Abspann ist zu lesen, dass der Drogentod für US-Amerikaner unter 50 Jahren inzwischen die häufigste Todesursache ist. Der reale Nic lebt seit Jahren drogenfrei, doch jeder einzelne Tag ist ein Sieg und eine permanente Überwindung, außer Gefahr ist ein ehemaliger Süchtiger nie wieder.

Beautiful Boy, Drama, Regie: Felix Van Groeningen, USA 2018, 112 Min., Altersfreigabe 17 Jahre