Systemsprenger

Ute Hallaschka

Helena Zengel, zur Drehzeit exakt so alt wie ihre Filmfigur, die neunjährige Benni, ist ein Ausnahmetalent. Das Mädchen ist wirklich eine Schauspielgröße. Was sie in diesem Film leistet, kann man einem Kind kaum beibringen. So vollkommen natürlich die Verzweiflung, die Wut und den Amoklauf einer zerbrochenen Seele darzustellen. In ihrem wirklichen Leben wächst die kleine Helena wohlbehütet im Kreis einer liebevollen Familie auf. Woher sie also die Erfahrung für diese unglaubliche Darstellung nimmt, ist dennoch kein Rätsel. Wer mit offenen Sinnen durch die Welt geht – und das tun Kinder bekanntlich – der kann heute eigentlich nur verrückt werden.

Der Film »Systemsprenger« schlägt ein wie eine Bombe. Dem Zuschauer wird nichts erspart, zwei Stunden lang durchlebt er den Teufelskreislauf mit. Ein Kind, für das es nirgendwo in der Welt einen Platz zum Leben gibt. Die labile Mutter fürchtet sich vor der eigenen Tochter und ihren Gewaltausbrüchen, regelmäßig scheitert der Versuch mit Mama zu leben. Dann beginnt die Wanderung von Maßnahme zu Maßnahme in einem ebenso überforderten System hilfloser Helfer. Pflegefamilie, Heim, Betreuung, Psychiatrie – wachsendes Trauma, verstärkte Gewaltausbrüche, neue Hoffnung – und alles von vorn im nächsten Kreislauf des Schreckens.

Der Kampf um die Liebe der Mutter, denn das ist es, was Benni eigentlich will, ist von Anfang an verloren. Doch alle Beteiligten sind beim besten Willen nicht imstande, dem Kind die Liebe zu geben, die es braucht. Die Kapazitäten der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind im Film, wie in der Realität, bis zum Anschlag gespannt. Personalnot und Etatkürzungen verschärfen die Situation. Der Film sorgt wegen seiner Gesellschaftskritik für Diskussionen. Es ist keine Dokumentation, doch der Fiktion liegt jahrelange Recherche zugrunde. Die Regisseurin hat vor sechs Jahren einen Film für die Caritas über ein Heim für obdachlose Frauen in Stuttgart gedreht. Dort begegnete ihr zum ersten Mal der inoffizielle, aber in der Jugendhilfe gängige Begriff »Systemsprenger«. Damals zog eine 14-Jährige ins Obdachlosenheim, für die es, wie für Benni im Film, keinen Platz mehr gab im Sozialsystem. Fingscheidt vermeidet alle Klischees und Schuldzuweisungen, sie stellt mit diesem Film einfach ein System in Frage, das nicht leisten kann, wozu es gedacht ist.

Was tun mit Benni? Zwischen den Extremen der Unterbringung in der Psychiatrie und dem Erlebnisurlaub in Afrika bahnt sich scheinbar eine Lösung an, als Antiagressionstrainer Micha (Albrecht Schuch) ihr Schulbegleiter wird. Er findet Zugang zu ihrer Seele, doch die drei Wochen in der Waldhütte, in der Benni sich ihm anvertraut, sind nicht die Lösung, sondern Fortsetzung des Problems. Es war nur Urlaub von der Tragik, Benni wünscht sich, er wäre ihr Vater und würde mit ihr leben. Der Traum eines Kindes, dass nur ein einziger Mensch unbedingt da wäre – er geht nicht gut aus.

Das Ende bleibt offen im Film und wird dem Zuschauer mit auf den Weg gegeben. Auch auf den Weg des Denkens. Bekanntlich gelten solche Kinder nur noch unter der chemischen Keule Ritalin und Co als beschulbar – auch an Waldorfschulen. Man ist tatsächlich froh, dass es keine Statistik gibt, wie viele Sedierte es wirklich sind.

Systemsprenger, Drama, 125 Min, Deutschland 2019, FSK 12 Jahre