Spontan sage ich zu, obwohl ich ihr gleichzeitig signalisiere, welche zeitliche Herausforderung dies mit sich bringt. Schließlich muss ich mir zugestehen, ohne einen Mittagsschlaf nicht über den Tag zu kommen und kapituliere in meinem Vorhaben bezüglich des Vortrags, doch kurz vor 19 Uhr werde ich wach und schaffe es tatsächlich, sie rechtzeitig abzuholen. Im Gelben Saal angekommen, muss ich sehr staunen, wie viele freie Plätze es noch gibt, doch dies ändert sich innerhalb von Minuten. Die Stimmung unter den Werklehrern ist sehr harmonisch und ich fühle mich spontan ganz wohl in dieser großen Runde.
Nach einigen einführenden Worten, beginnt Sven Saar seinen Vortrag »Aus der Flitzstimmung in die Schwere« und wir werden alle auf eine Reise in Felder mitgenommen, die für einige sicherlich nichts neues darstellen, weil die meisten Anwesenden eine pädagogische Waldorfausbildung haben und deshalb mit den Ansätzen von Rudolf Steiner sehr gut vertraut sind. Dennoch wird hier durch ganz persönliche Beobachtungen Bekanntes humorvoll auf den Punkt gebracht. Auf der einen Seite steht der Bewegungsdrang (Flitzstimmung) der Viertklässler, bei denen die eigenen Impulse noch sehr stark das Handeln beeinflussen und auf der anderen Seite stehen dem die Achtklässler gegenüber, die im wahrsten Sinne des Wortes in das Klassenzimmer geschoben werden müssen, wegen der altersbedingten Schwere.
Am meisten beindruckt mich ein Bild, das spontan bei einem Ausflug der 6. Klasse entstanden ist. Nachdem alle ihre Fahrräder auf die Anhöhe geschleppt haben, saßen der Phlegmatiker, der Choleriker, der Melancholiker und der Sanguiniker in ihren charakteristischen Körperhaltungen nebeneinander auf der Bank. Mit diesem Bild wird uns ein visueller Zugang zur Menschenkunde Rudolf Steiners eröffnet und ich muss an das »Haus der Temperamente« denken, das vor einigen Wochen an der Freien Waldorfschule in Überlingen als Achtklassspiel aufgeführt wurde. Schon nach diesem Theaterstück von Nestroy war ich beeindruckt, in welcher Tiefe unsere Kinder mit den unterschiedlichen Charakteren vertraut gemacht werden, und wie sie dadurch wie selbstverständlich lernen, diese bei sich zu erkennen und vielleicht auch zu relativieren oder sogar zu transformieren. Wie schön ist es doch, wenn es Oasen gibt, wo der Mensch noch Mensch bleiben darf.
In diesem Zusammenhang muss ich an meine erste Begegnung mit der Eurythmie im Waldorfkindergarten in Ingolstadt denken. Als Herr Goetz uns Eltern bei einer Probestunde aufforderte, bewegend in das Gefühl der Freude, der Trauer, der Wut und so weiter zu gehen, bin ich tief berührt, weil das hier alles seinen Platz bekommt. Dadurch kommen diese Kräfte in Fluss und können sich von klein an auflösen in etwas Kreatives. Wie heilsam und wie bedeutsam dieses »Seinlassen« der Gefühle ist, wird für mich immer offensichtlicher. Und darauf sollte meiner Meinung nach der Focus bei jeder Friedensarbeit gelegt werden. Denn wenn diese Gefühle in der Kindheit unterdrückt werden, hat dies fatale Auswirkungen auf den Erwachsenen Menschen.
Aus dieser Beobachtung heraus ist in mir die Frage entstanden, ob es nicht die größte Aufgabe der Schule oder Bildung sein sollte, uns für das Leben vorzubereiten? Eine Synthese von intellektueller Erziehung und kreativem Umgang mit der Wirklichkeit des Lebens ist doch dabei sehr wünschenswert!
Hierfür hat die Waldorfpädagogik sicherlich einen wichtigen Schlüssel und sollte sich in unserer Zeit auch diesem in der Öffentlichkeit immer mehr stellen, denn diese wertvollen Oasen, wie wir sie hier in Wahlwies als Selbstverständlichkeit hinnehmen, werden immer seltener und doch braucht sie die Welt als Säulen der Menschlichkeit.
Inzwischen bin ich in Kroatien ganz in der Nähe von Kraljevac, dem Geburtsort von Rudolf Steiner und bin sehr dankbar zu wissen, welche wertvollen Beiträge für die Menschheit durch ihn in die Welt getragen wurden. Zugegebener Maßen sehe ich mich auch in der »Waldorflandschaft« oft mit den großen Herausforderungen unserer Zeit konfrontiert und würde sie liebend gerne mit neuen Impulsen belebt wissen. Gleichzeitig bin ich für jede Erkenntnis dankbar, die in mir das Vertrauen in die individuelle Wahrnehmung unserer Kinder nährt, durch die sich ihr natürliches Potential frei entwickeln darf.