Die Kunst des Hin- und Herschwingens

Claus-Peter Röh

Wenn ich ein Kind aus einem inneren Bild heraus fordere, ein Kind, das ich genau kenne, von dem ich weiß, da will etwas werden, dann ist es in der Regel ganz zufrieden und freut sich, gefordert zu werden. Sein Inneres stimmt mit meiner Forderung überein. Wenn ich das Kind nicht so gut kenne, aber trotzdem etwas Bestimmtes von ihm erwarte, was es gar nicht erfüllen kann, ist es wie ausgeliefert. Es ist überfordert. Förderung heißt, einen Entwicklungsschritt zu ermöglichen. Es gibt Kinder, die lesen, schreiben und rechnen wollen, aber es ohne Hilfe nicht schaffen. Hier setzt Förderung an. Die Frage ist, bis zu welchem Grad ein Klassenlehrer selbst entscheiden kann, ob Förderung erforderlich ist oder nicht, und ab wann er den Blick von einer dritten Seite braucht.

Unterfordern heißt, den jungen Menschen nicht ernst zu nehmen und nicht wahrzunehmen, was er könnte. Unterfordern ist Unkenntnis. Für das Kind wird es fade und langweilig, es zieht sich zurück, stört oder wendet sich anderen Bereichen zu. Aber nicht jeder Rückzug ist aus Unterforderung zu erklären. Der junge Rudolf Steiner hat Seiten aus Kants »Kritik der reinen Vernunft« in sein Schulbuch gelegt, um die Unterforderung durch seinen Geschichtslehrer zu kompensieren, wie er in seiner Autobiografie erzählt.

Mache Dir ein Bild!

Wir müssen einen Sinn dafür entwickeln, wie das Kind sich entwickeln wird. Habe ich als Lehrer Grundvertrauen in das Kind, dann vertraue ich darauf, dass da noch etwas kommen wird – und zwar vom Kind und nicht von mir. Das Vertrauen lässt mich etwas erwarten. Aber diese Erwartung kann verschieden aussehen: Ich kann normativ etwas erwarten, was erfüllt werden muss – eigentlich eine furchtbare Situation für das Kind. Ich kann aber auch Gelegenheiten schaffen, die das Kind fordern und an der Art, wie es mit der Aufgabenstellung umgeht, ablesen, was notwendig ist und was nicht. Da hilft ein zukunftsorientierter Blick. Wichtig ist, dass dieser Blick nicht nur der meine ist, sondern dass Eltern, andere Lehrer und der Schularzt gemeinsam auf das Kind blicken. Dadurch entsteht ein Frageraum, eine Art Suchbewegung in einem gemeinschaftlichen Gespräch. Diese gemeinsame Aufmerksamkeit regt oft eine Antwort des Schülers an: Jetzt wartet noch einmal ein Vierteljahr oder, jetzt geht es los. Es kommt ein Zeichen.

In diesem Zusammenhang ist die innere Arbeit des Lehrers sehr wichtig. Alle Lehrer, die in solchen Situationen stehen, beschreiben, dass sie mit der inneren Arbeit genauso weit kommen wie mit der äußeren Arbeit. Es kommt darauf an, dass ich mir ein Bild vom Kind mache, dass ich aber auch bereit bin, dieses Bild jederzeit zu verändern. Es ist kein festes Bild, das ich entwickle, sondern mehr eine Frage, die sich in ein Bild kleidet. Meine Gedanken über das Kind arbeiten dann gewissermaßen in mir. Und das Kind spürt das.

Das Entscheidende ist die Arbeit des Erziehers an sich selbst. Ich kann mich selbst als Mutter, Vater oder Lehrer anschauen und mich fragen, wieso ich heute zum Beispiel so scharf reagiert habe. Oder ich kann einen Moment abwägen, bevor ich handle. Das ist etwas, was die Kinder wahrnehmen. Handelst du aus dem Schwung, machst einfach weiter, oder wägst du einen Moment ab und entscheidest bewusster, was du als nächstes tust? Diese innere Arbeit wirkt unmittelbar. Das Kind orientiert sich an dem, was es an den Erwachsenen wahrnimmt.

Wichtig ist die Fragehaltung des Erwachsenen: Was sehe ich in dir, was will werden? Ich sehe auch Schwieriges oder Schwächen. Doch traue ich dir einen nächsten Schritt zu. Diese Haltung ermöglicht große, manchmal überraschende Schritte – im Gegensatz zu einer Haltung, die etwas festschreibt.

Ein Schiff und viele Reisende

Als Lehrer sehe ich natürlich nicht nur das einzelne Kind, sondern auch die ganze Klasse. Ich muss wissen, wohin das ganze Schiff steuert. Ich muss also Dinge mit den Kindern tun, die individualisieren und gleichzeitig solche, die die Gemeinschaft fördern. In jeder Stunde muss beides vorhanden sein. Der musikalisch-sprachliche Unterrichtsstrom hat eine Qualität, die stark auf die Gemeinschaft wirkt. Die Kinder schwingen in die Lieder ein, sie finden sich als Gemeinschaft. Ist das gut entwickelt, kann es wieder individuell werden: Es singt nur eine Gruppe, dann die andere. Man individualisiert immer mehr auf dem Strom des Gemeinsamen. Ähnlich ist es im Sprachlichen. Die Kinder sprechen im Chor, aber bei bestimmten Spielen oder Abschnitten treten sie als Einzelne auf.

Ist eine Klasse sehr heterogen, gilt es, den Gemeinschaftspol zu stärken. Das kann dadurch geschehen, dass ich als Lehrer für diese Klasse Schilderungen, Szenen, Lieder und Aufgaben entwickle, die ihr auf den Leib geschrieben sind. Das wirkt dann besonders stark gemeinschaftsbildend. Durch das Malen, Zeichnen, Schreiben wird dagegen das Individuelle gefördert. Ist dieses Individualisierende einer Klasse ihre Stärke, dann wird man das zunächst aufnehmen und beispielsweise viel und intensiv malen oder zeichnen lassen. Die Frage ist aber, wie wir von dort zur Gemeinschaft kommen. Eine Lösung wäre, dass es zur Gewohnheit wird, schon für den nächsten Morgen die gemalten Bilder an die Wand zu hängen. Das Geschaffene wird dann – oft staunend – gemeinsam angeschaut. In dieser Art führen wir das Individuelle zur Gemeinschaft. Der Erzieher hat die Aufgabe das Einzelne und das Gemeinschaftliche in eine Balance zu bringen. Das Hin- und Herschwingen ist eine Kunst.

Waldorfpädagogik ist die Kunst, zu fordern und zu fördern

Es ist auch eine Kunst, die Stärken und Schwächen eines Kindes im Zusammenhang zu sehen und nicht nur unter normativen Gesichtspunkten. Ein Erstklässler hat zum Beispiel eine Art mathematisches Genie, sich in Zahlenräumen zu bewegen, ist aber im Sozialen, im Musikalischen überhaupt nicht dabei. Da wäre für dieses Alter die Geste angebracht, das wahrzunehmen: Ich sehe, was du kannst. In dieser Geste der Anerkennung kann auch einmal eine individuelle, schwierigere Aufgabe gegeben werden.

Entscheidend ist, diese Begabung zu bemerken, ohne sie zu übersteigern, denn eine solche frühe Begabung braucht einen längeren Weg, um im weiteren Erleben und Üben zu einer gereiften Fähigkeit zu werden. Zugleich wird man das Kind auf anderen Gebieten fördern, die es noch weniger erkundet hat.

Viel schwieriger wird es in einer sechsten Klasse. Ist ein Kind mit einer Aufgabe in zehn Minuten fertig, für die andere vierzig Minuten brauchen, so muss man dieses Kind einzeln fördern. Solchen Kindern sollte jeden Tag etwas gegeben werden, was ihrer individuellen Fähigkeit entspricht, sonst fühlen sie sich nicht gesehen. Erstrebenswert ist es, eine Fähigkeit mit anderen Fachgebieten zu verbinden, damit das Kind nicht in die Einseitigkeit getrieben wird. Zum Beispiel kann man bei einem mathematisch hochbegabten Kind die Aufgaben mit musikalischen, zeichnerischen Gesetzmäßigkeiten kombinieren, etwa im Zeichnen von Schattenwürfen oder Seemannsknoten. Erlebt es auf dem anderen Gebiet manchmal eine Überforderung, macht das punktuell gar nichts. Gleiches gilt für Kinder, die nicht mitkommen, die tendenziell immer überfordert sind. Hier muss ich mich individuell den Kindern zuwenden und sie gesondert fordern. Gerade in der Mathematik ist das sehr auffällig. Hier wachsen die Blockaden am schnellsten und werden zu anhaltenden, unüberwindlichen Hindernissen. Ich muss also differenzieren. Im Rechnen geht das natürlich sehr gut. Die »Kaufleute« beispielsweise – nicht die schwächeren Schüler, solche Begriffe sind zu vermeiden – erhalten ihnen gemäße Aufgaben. Hierbei ist wichtig zu beobachten, wie ein Kind auf die gestellten Aufgaben reagiert. Nimmt es die drei »Kaufmannsaufgaben« an und arbeitet sie durch? Das wäre wunderbar. Tut es das nicht, dann wäre es wichtig, einen Menschen, einen Helfer zu haben, der sich des Kindes einzeln annimmt, bevor die Verzweiflung durchbricht.

Diese Kinder brauchen Zeit und die muss ihnen in irgendeiner Weise zukommen. Das heißt nicht, dass ein solches Kind die Klasse sofort verlassen muss. Es kann sich in der Arbeit und in den Gesprächen mit Eltern und Kollegen aber doch zeigen, dass der Weg in eine kleinere Lerngemeinschaft die bessere Lösung ist. Für die Gesamtgestalt der Schule ist es dann wichtig, dass immer eine pädagogische Membran zwischen Förderklassen und großen Klassen existiert. Die Schüler sollten die Möglichkeit haben, zurückzukehren. Geschieht das, kann es sich als ein Geschenk für die große Klasse erweisen. Denn solche Schüler bringen ganz individuelle Lernwege und Fähigkeiten mit, die sie unter großer Anstrengung errungen haben.

Grundsätzlich ist meine Aufgabe als Lehrer, zu merken, wo die Fähigkeiten liegen. Denn jedes Kind hat Fähigkeiten. Und werden sie von mir wahrgenommen, dann wird auch die Klassengemeinschaft sie wahrnehmen. Ein Kollege hatte einen Schüler, der im Rechnen große Schwierigkeiten hatte, aber im Sozialen ein Genie war. Er stellte sich zwischen Streitende und löste durch lebenskluge Fragen manchen sozialen Konflikt. Als dieser Schüler nach dem achten Schuljahr in eine andere Klasse wechselte, hat die gesamte Gemeinschaft deutlich formuliert, wie sehr sie ihn vermisst.

Mit dem Zugehen auf die Oberstufe spitzen sich die Probleme oft zu, da hier das sogenannte Leistungsdenken immer stärker wird. Wir haben heute die Tendenz, eine Leistungssteigerung vor allem im gedanklich-kognitiven Bereich zu fordern. Der Ansatz der Waldorfpädagogik ist es, stets den ganzen Menschen zu stärken, der dann möglichst aus sich selbst heraus den Kopfmenschen aufweckt.

Ich kann nur hoffen, dass jede Schulgemeinschaft einen Weg findet, mit den Kindern, die in den vorwiegend kopforientierten Mainstream nicht unmittelbar passen, umzugehen. Sei es, dass sie einzeln gefördert werden, dass ein Förderzweig entsteht, Förderklassen oder später ein berufsaufbauender Zweig der Schule. Eine besondere Möglichkeit, das Spektrum differenzierter Lernwege am Ende der Schulzeit wahrzunehmen, sind die künstlerischen Abschlussarbeiten des zwölften Schuljahres: In beeindruckender Weise zeigen die Jugendlichen in ihren Arbeiten, was sie in ihrem individuellen Menschsein errungen haben.

Die Waldorfschule ist eben kein System, sondern die Kunst, das, was der Mensch in sich trägt, aufzuwecken.

Zum Autor: Claus-Peter Röh war langjähriger Klassenlehrer in Flensburg; heute ist er einer der Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum.