Folgenreiche Annahmen

Henning Köhler

Materialisten lassen über vieles mit sich reden, nicht jedoch über die Möglichkeit eines von Körperfunktionen unabhängigen Bewusstseins. Ihnen zufolge ist das Sterben ein monströser Vernichtungsvorgang, der alles einschließt, was man an dem Verstorbenen als dessen ureigenen seelisch-geistigen Wesensausdruck erlebte und vielleicht liebte.

Natürlich gibt es keinen Beweis für eine nachtodliche Existenz. Doch Beweisbarkeit ist ein schwaches Kriterium, wenn es um die letzten Fragen geht. Auch das Dogma vom totalen Verschwinden lässt sich nicht beweisen. Klar ist immerhin: Die rationale Logik stößt an Grenzen und treibt sich selbst über ihre Grenzen hinaus. Beschäftigen Sie sich zum Beispiel einmal ein bisschen mit Quantenphysik. Quantenphysiker lächeln über den Status quo materialistisch-naturalistischen Denkens. Wenn sich ein Ding gleichzeitig an zwei Orten befinden kann, der Zeitstrom umkehrbar ist und »Materie aus immateriellen Bausteinen besteht« (Hans-Peter Duerr), ist noch manches andere möglich. Auch hinsichtlich des Todesrätsels. Menschen mit Nahtoderfahrungen haben jedenfalls Erstaunliches zu berichten. Sie sprechen von einer wunderbaren Erweiterung des Bewusstseins. Das beweist wiederum nichts, sollte aber Grund genug sein, die Sache offen zu halten. Vielleicht wäre etwas mehr Bescheidenheit angebracht. Viele bedeutende Köpfe sahen und sehen im Tod nicht das Ende der Existenz, sondern einen Übergang. Sie sämtlich als Idioten oder Betrüger abzutun, erscheint mir reichlich vermessen.

Völlig daneben ist es, wenn schon die Kinder mit materialistischen Anschauungen belästigt werden. Man stärkt damit keineswegs ihren Realitätssinn, sondern schwächt ihren wunderbar optimistischen »Möglichkeitssinn« (Robert Musil). Im Wissenschaftsmagazin Gehirn&Geist erschien ein Artikel über Richtlinien der Trauerbegleitung für Kinder. Manches Beherzigenswerte wird dort ausgeführt. Doch in einem Punkt muss ich vehement widersprechen: Man dürfe Kindern gegenüber den Tod nicht »beschönigen«. Sie hätten das Recht, die volle Wahrheit zu erfahren. Welche Wahrheit? Nun ja, siehe oben. Vor einigen Wochen starb mein Vater. Wir erklärten seinem vierjährigen Urenkel Kolja: »Uropa Heinrich ist in den Himmel gegangen.« Seither ruft das Wort »gestorben« bei Kolja Assoziationen von Wolken, Vögeln, Sonne, Mond und Sternen, aber auch von einem großen Abschied hervor. Betrug? Ach wo. Beschönigung? Sicher. Kinder – wenigstens sie – brauchen Bilder des Geschehens, die kein Entsetzen hervorrufen, sondern in den vier Farben der Melancholie gehalten sind: Kummer, Ernst, Sehnsucht und Schönheit. Was soll daran Betrug sein?

»Niemand kennt den Tod. Keiner weiß, ob er nicht das größte Geschenk an den Menschen ist. Dennoch wird er gefürchtet, als wäre er das schlimmste Übel.« Sokrates

Literatur: »Oma, wann stirbst Du denn?«, in: Gehirn & Geist 8/2017 | H.-P. Duerr: Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unserer Zeit über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren, Bad Essen 2010 | R. A. Muller: Jetzt. Die Physik der Zeit, Frankfurt 2018 | P. van Lommel: Endloses Bewusstsein. Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung, München 2018 | R. Steiner: Der Tod als Lebenswandlung, Dornach 1986