Abitur und Menschenkunde. Provokation oder Lösung?

Holger Baumann

Mein Anliegen als Oberstufenlehrer war und ist es, unbefangen die staatlichen Anforderungen an einen Schüler der Sekundarstufe II daraufhin zu betrachten, inwieweit sich das staatliche Modell vom waldorfpädagogischen Ansatz unterscheidet. Und was kann ich tun, um den Abiturunterricht nach waldorfpädagogischen Werten zu gestalten?

Der Epochenunterricht als grundlegende didaktische Gestaltung bleibt – bis zur Abiturprüfung. Das anthroposophisch als »Nachterlebnis« bekannte Niederlegen des am Tag Erlebten zur Weiterführung am nächsten Epochentag ist längst von der neuropsychologischen Forschung als grundlegender Lernvorgang auch auf hirnphysiologischer Ebene bestätigt. Seit vielen Jahren führe ich Zwölftklässler im Leistungskurs Biologie über zwei Schuljahre zum Abitur. Man muss den Biologie-Unterricht als Waldorflehrer inhaltlich nicht genau so gestalten, wie es der Unterricht der staatlichen Richtlinien und Schulbücher für das Abitur fordert. Man kann die überwiegend materialistisch-reduktionistische Mainstream-Biologie – durch ganzheitliches, manchmal spirituelles – Denken impulsieren und erweitern und so zutiefst welt- und menschenbildend für die Heranwachsenden wirken – etwa bei der Behandlung der Evolutionstheorien.

Doch soll es hier nicht um Inhalte gehen, sondern um die Prinzipien der Menschenkunde. Was ich von den staatlichen Richtlinien übernehme und auch für angemessen halte – und das, selbst wenn es in der Zukunft ein selbstgestaltetes Waldorfabitur geben sollte! –, versuche ich den Schülern zu Beginn der 12. Klasse in einer Übersicht klar zu machen:

Das Fach Biologie gliedert sich für die Schüler in der 12./13.Klasse in drei Teilbereiche:

I. Wissen/Fachinhalte

Es gilt zu üben, sich komplexe Inhalte zu erschließen in den vier sog. Halbjahresthemen Ökologie, Genetik, Neurobiologie und Evolution (beispielsweise aus dem Themenbereich Genetik: Vererbungsgesetze, Erbkrankheiten und Schwangerschaftsberatung, Struktur der DNA, Funktionen der DNA bis hin zur Gentechnik und ihrer ethischen Bewertung)

II. Lernen im Kontext

Einordnung des biologischen Grundlagenwissens in allgemein gesellschaftliche Bezüge mit Bedeutung für die Politik, Wirtschaft, Medizin, Pharmazie, Landschaftsplanung, Land- und Forstwirtschaft, Biotechnologie und Ernährung sowie kommunale Verwaltung

III. Umgang mit Fachmethoden und Formen selbstständigen Arbeitens

Selbstgesteuertes Lernen durch Einüben von Lösungsstrategien und von eigenen Lernkompetenzen

 

Die intellektuellen Anforderungsbereiche an die Schüler gliedern sich (mehr oder weniger in allen Abiturfächern) folgendermaßen:

I. Wiedergabe von Wissen

z.B. Beschreibung eines Säulendiagramms oder Wiedergabe eines gelernten Sachverhalts (Anteil in einer Klausur ca. 40 Prozent)

II. Anwendung und Transfer

z.B. Unbekanntes Arbeitsmaterial, das aber durch Übertragung des Gelernten auf einem ähnlichen Gebiet erschlossen werden kann, erläutern! Oder: Kausalzusammenhänge diskutieren … (Anteil in einer Klausur ca. 40 Prozent)

III. Problemlösung/Erkenntnisgewinnung

z.B. aus analysierten Fakten eine Hypothese oder Theorie bilden und durch sachgerechte Argumentation begründen (Anteil in einer Klausur bis 20 Prozent)

 

Es überrascht nicht, dass das »selbstgesteuerte Lernen durch Einüben von Lösungsstrategien und von eigenen Lernkompetenzen« für die Schüler zunächst die schwierigste Hürde darstellt. Denn der »Sprung ins kalte Wasser« stark erhöhter Anforderungen ist für die Zwölfer nicht ohne. Es werden Klausuren über mehr als vier Zeitstunden geschrieben und vieles mehr. Es gilt, sich rasch frei zu schwimmen und die Verantwortung für die eigene Persönlichkeitsentwicklung in die eigene Hand zu nehmen. Das Trainingsangebot in den zwei Schuljahren der 12. und 13. Klasse bedeutet in allen Fächern, sich komplexe Inhalte und Zusammenhänge zu erschließen, Probleme zu analysieren und zu hinterfragen, Einsichten zu gewinnen und Lösungswege zu erdenken. Ist der Trainingserfolg zufriedenstellend, fallen gute Noten, gewissermaßen von allein ab.

Der ganze Duktus ist natürlich der, in das naturwissenschaftliche Arbeiten und Denken einzuführen und den Zusammenhang mit gesellschaftlichen Feldern herzustellen – eine hoch spannende Angelegenheit, die dem Leitspruch der Waldorfschule: »Wir lernen, um die Welt zu verstehen« (»und zu gestalten«) vielleicht eine neue und vertiefte Bedeutung verleihen kann! Auch wenn das Zentralabitur herandräut – oder gerade deshalb –, dürfen wir nicht den Kernauftrag einer Waldorfschule aus dem Auge verlieren! Und der Kernauftrag ist, altersentsprechend Fähigkeiten zu entwickeln helfen, Fähigkeiten zu trainieren! Persönlichkeitsbildung! Nicht wenige werden den Gewinn an Ich-Qualitäten hernach zu schätzen wissen.

Das Ende des zweiten Jahrsiebts charakterisieren Waldorfpädagogen in Steiners Sprache als Geburt, als Freiwerden des Astralleibes. Der Terminus »Astralleib« zielt auf unsere seelischen Persönlichkeitskomponenten: die Kräfte der Gefühlsseele, der Verstandesseele, der Bewusstseinsseele.

Im Laufe des dritten Jahrsiebts stehen diese Kräfte dem Menschen-Ich nun zum Entwickeln und Integrieren in die Gesamtpersönlichkeit zur Verfügung. Die Verstandesseelen- (und Bewusstseinsseelen-)Kräfte sind das, was man als Intellektualität oder intellektuelles Denken bezeichnet, nämlich das analytische Denken, das schlussfolgernde Denken, das vernetzte oder ganzheitliche Denken (unabdingbar, um sich in das Verständnis der globalen Ökologie einzufühlen) und das Erkenntnis-Denken, das zu selbstständigen Einsichten und Hypothesen führt. Und genau diese Denkfähigkeiten sind es, die man im Hinblick auf das Abitur und die Studierfähigkeit der jungen Menschen im besonderen Maße trainiert.

Eine Waldorfschule sollte die individuellen Anlagen und Talente aller Schüler fördern und entwickeln helfen! Folgerichtig kommt die Waldorfschule mit ihrem Angebot einer Sekundarstufe II eben auch potenziell – »gymnasialen« Schülern entgegen … Die zweijährige Qualifikationsphase (Sekundarstufe II) ist dann alles andere als schnödes »Pauken fürs Abitur«. Natürlich muss ein Schüler auch häusliches Kompetenztraining (früher lapidar »Hausaufgaben«) durchleben, zuweilen durchschwitzen.

Nimmt man die menschenkundlichen Gegebenheiten wie auch den Unterrichtsauftrag unserer Waldorfschule ernst, bedeutet die zweijährige Qualifikationsphase, die vor den Zwölftklässlern liegt: die Chance für den entsprechend veranlagten Schüler, seine Fähigkeiten intensiv zu trainieren, um intellektuell-wissenschaftliche Fertigkeiten und damit auch seine Gesamtpersönlichkeit – gemäß Begabung, Haltung und Individualität – zu entwickeln!

Menschenkundliche Gesichtspunkte

Die Themen: »Mein Standpunkt in der Welt« – Von der Analyse (Zerteilung) zur Zusammenschau (Synthese-Denken):

Ganzheitlichkeit – von der Verstandesseele zur Bewusstseinsseele – fundierte Beurteilung von gesellschaftlichen, historischen, naturwissenschaftlichen Problemlagen – Ich bin in der Lage, Standpunkte vielschichtig, wie kritisch zu vertreten. – Ich komme an: bin Zeitgenosse.

Fähigkeiten/Lernziele: Die mühsame Analyse erhellt komplexe Zusammenhänge und ermöglicht Problemlösungen, Urteile und Erkenntnisse. – Ich kann, wenn ich will, auf allen Anforderungsebenen gesellschaftlicher Realität mitagieren. – Methodenkompetenz, Denk- und Wissenschaftskompetenz, Selbstkompetenz

Lehrmethoden/Didaktik: Wissenschaftliche Arbeitsweisen, Forschergeist wecken. Bildner und Schöpfer von Hypothesen, Theorien und Plänen werden.

Denken/Fühlen/Wollen: »Ich fühle: Ich gehe in die Welt, als jemand, der weiß, wie er zum Wissenden werden kann.« Selbstbewusstsein wird gestärkt.

 

An der Freien Waldorfschule Oberberg/Gummersbach haben wir den eingangs beschriebenen Grabenkrieg weitgehend befriedet: Ab Klasse 12 gibt es eine Abiturgruppe und eine Berufsorientierungsgruppe. Beide Gruppen arbeiten intensiv an ihren »Waldorf-Highlights«, den künstlerischen Abschlüssen in Musik, Eurythmie und bildenden Künsten sowie dem Theaterprojekt (bis zum Ende der 12. Klasse). Die Berufsorientierungsgruppe geht zwischendurch in Berufsfeld- oder Erkundungspraktika.

Die Abiturgruppe hat – zu den »Waldorf-Highlights« – in acht Fächern den Stundenumfang, den auch ihre Schülerkollegen an staatlichen Schulen in der zweijährigen Qualifikationsphase der Sekundarstufe II haben. Für uns ist das eine insgesamt gelungene und mittlerweile auch bewährte Symbiose und Weiterentwicklung der Waldorf-Oberstufe.

Zum Autor: Holger Baumann ist Lehrer für Biologie, Gartenbau, Geographie und Chemie an der Waldorfschule Oberberg/Gummersbach.