Ausgespielt

Stefan Ruf

Greta Thunberg, die 16-jährige Schülerin, fokussiert auf ein Naturphänomen, das durch unser Handeln von Jahr zu Jahr bedrohlichere Züge annimmt. Edward Snowden, einer der ersten »Digital Natives«, doppelt so alt wie Thunberg, fokussiert auf ein technisches Phänomen, das für ihn geistige Heimat war: das »World Wide Web«. So weit, so unterschiedlich. Auf den zweiten Blick aber gibt es Parallelen, die tief bewegen können – nachzulesen in der Familienautobiographie der Thunbergs, »Szenen aus dem Herzen«, und der eben veröffentlichten Autobiographie »Permanent Records« von Snowden.

Beide widmen ihr Handeln zwei unterschiedlichen Phänomenen, die bei genauerem Hinsehen aber erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Selbstverständlich sind die Erdatmosphäre und das World Wide Web unterschiedliche Entitäten. Die Erdatmosphäre ist von natürlicher Qualität – eine wunderbare uns einhüllende Membran, an der Grenze zwischen Kosmos und Erde, an der Grenze von Feinstofflichem und Materie. Das World Wide Web ist dagegen technischen Ursprungs. Daran gibt es keinen Zweifel. Jedoch, das weltumspannende, uns alle verbindende Netz liegt  ebenfalls an der Grenze zwischen feinstofflich und materiell. Und beide werden von uns mitgebildet. Beim World Wide Web ist das evident. Aber auch die Atmosphäre, jedenfalls der untere Teil von ihr, die Troposphäre, wird von allem mitgebildet, was ist: Böden, Pflanzen, Tieren und uns Menschen. Und in beiden »Geweben« zeigen sich momentan viele menschlich verursachte Schattenseiten. Beiden wohnt eine Kraft und Größe inne, die den Einzelnen überfordert. In beiden braut sich gegenwärtig ein Szenario zusammen, das uns nicht nur zutiefst besorgt machen kann, sondern zum sofortigen Handeln drängt: Die Rede ist von individueller und gesellschaftlicher Transformation.

Wenn wir unser ökologisches Verhalten nicht radikal verändern, so werden nach gegenwärtigem Stand die Lebensbedingungen unserer Kinder mit den heutigen wenig gemeinsam haben. Gleiches wird über die digitale Manipulation und Kontrolle durch Extremisten, Forscher, Konzerne und Staaten gesagt, die ein Sozialwesen kreieren werden, das wir nie hätten haben wollen. Aber auch hier spielen wir mit.

Snowden und Thunberg aber, und das macht beide so besonders und vergleichbar, haben in ihrem Leben einen großen Schritt gewagt – und spielen nicht mehr mit. Die eine, indem sie trotz ihrer »sozialen Phobie« an die Öffentlichkeit ging und vor dem Schwedischen Parlament demonstrierte. Der andere, indem er unter Lebensgefahr aus einer streng gesicherten Bunkeranlage unter einer Ananasplantage in Hawaii Daten herausschmuggelte und nach Hongkong floh.

Beide zeigten also eine Menge Mut. Doch ihre Tat kam nicht aus dem Nichts, sondern aus einer persönlichen, schweren depressiven Krise. Greta Thunberg drohte, ob des Zustandes der Welt zu verstummen, aß kaum noch und trieb ihre Eltern in Verzweiflung. Edward Snowden saß monatelang auf seinem Sofa, kaum fähig, das Zimmer zu wechseln, nachdem ihm klar wurde, zu was für einem perfiden und raffinierten Überwachungssystem Menschen wie er das Netz gemacht haben. Bei beiden kam der Wendepunkt mit dem Entschluss, ihrem Gewissen zu folgen und zu handeln. Aber was heißt Gewissen? Bei beiden scheint es mit einer Einsicht in die moralische Verantwortung gegenüber etwas Höherem in und außer ihnen zusammenzuhängen, einem höheren Gut als der Befriedigung ihrer unmittelbaren persönlichen Interessen und Bedürfnisse. Beide fühlen seither eine Kraft in sich, die das Gegenteil von Depression ist, eine Kraft die ihnen hilft, sowohl mit der unglaublichen Verehrung als auch mit dem Hass umzugehen, die ihnen entgegengebracht werden. Doch beide haben es »nie bereut«.

Ihr Schicksal und ihre Seelenverfassung sind jedoch nicht so einmalig. Es sind Menschen, die – wie so viele andere – damit anfangen, Verantwortung für ihr Handeln und die Welt zu übernehmen. Sie unterscheiden sich nur dadurch, dass sie früher verstanden haben, was es heißt, global vernetzt zu sein – technisch und natürlich. Und sie haben das nicht nur rational verstanden. Sie scheinen es zu fühlen; weswegen sie durch eine Menge Schmerz gehen mussten. Sie haben »Verzweiflungsarbeit« geleistet, wie es die kalifornische Ökopsychologin Joanna Macy bezeichnet. Seit die beiden aber durch ihre Lebens- und Sinnkrise hindurch sind, haben sie an Kraft und Lebensintensität gewonnen, die außergewöhnlich ist.

Jeder Mensch hat Zugang zu einer ähnlichen inneren Kraft, zu seinem geistigen Potenzial – um jetzt gemeinsam einen Paradigmenwechsel einzuläuten. Sind die Menschen in der Waldorfschulbewegung nicht prädestiniert dafür

Zum Autor: Dr. Stefan Ruf ist Geschäftsführer und therapeutischer Leiter der gemeinnützigen Jugendhilfeeinrichtung Mäander gGmbH in Berlin. www.maeander-ggmbh.de

Literatur: S. Ruf: Klimapsychologie – Wege zu einem atmosphärischen Bewusstsein. Ein Ansatz zur Überwindung der Klimakrise, Info3-Verlag, Frankfurt 2019