Das verkannte Temperament

Wolfgang Leonhardt

Seit Hippokrates bildete die Temperamentenlehre die Grundlage der Medizin und Menschenerkenntnis, bis sie im 19. Jahrhundert mit dem aufkommenden Materialismus aus der Wissenschaft fast vollständig verschwand. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts – 1993 – erschien das Buch »Die Wiederentdeckung des Temperaments« (Marcel R. Zentner) und die Wissenschaft beginnt sich seither zunehmend wieder für die Temperamente zu interessieren.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat Rudolf Steiner die Temperamentenlehre gewissermaßen auf neue Beine gestellt, indem er sie vor allem durch die Wesensgliederlehre und die Entwicklung der Individualität erweitert hat. Mit der Gründung der Waldorfschule und etwas später mit dem medizinischen Wirken gab er viele zum Teil ganz ins Praktische gehende, überall im Gesamtwerk auftauchende geisteswissenschaftliche Hinweise zu den Temperamenten.

Es ist ein bedeutendes Verdienst der Waldorfpädagogik, dass sie in einer Zeit, in der die Welt die Temperamentenlehre fast vergessen hat, eine Pädagogik pflegte, die auf ihrer Erkenntnis aufgebaut ist. Zu deren Grundlagen gehört die unmissverständliche Forderung von Rudolf Steiner an jeden Lehrer und Erzieher: »Es ist die wichtigste Aufgabe des Erziehers und Lehrers, diese vier Grundtypen, die man die Temperamente nennt, wirklich zu kennen« (GA 295). – »Wichtigste Aufgabe«, »wirkliches Kennen« – wie steht es darum heute in der Lehrerausbildung und in den Schulen?

Die Zukunftsseite der Temperamente wird oft vergessen

Die zitierte Aussage weist darauf hin, dass es um etwas Essentielles der Waldorfpädagogik geht.

Hier möchte ich mir eine persönliche Bemerkung aus meiner Erfahrung als Schularzt erlauben: Viele Pädagogen bemühen sich, diesen Anforderungen gerecht zu werden, und doch ist immer seltener zu erleben, dass die Temperamentserkenntnis wirklich fruchtet, das heißt, in der pädagogischen Praxis lebendig gehandhabt wird. In der Ausgabe dieser Zeitschrift vom Juli/August 2011 konnte man lesen: »Die sogenannte Temperamentenlehre Rudolf Steiners wird zwar an den Waldorflehrerseminaren und -hochschulen gelehrt, findet aber im Unterricht der Waldorfschulen immer weniger praktische Anwendung« (M. Maurer).

In meinen Gesprächskreisen und Seminaren über Temperamente hatte ich immer wieder folgendes Erlebnis: Ich schilderte (absichtlich) die vier Temperamente mehr äußerlich mit Betonung der negativen Seiten, also Melancholie: Rückzug, Trauer; Phlegma: Ruhe, Trägheit; Sanguinik: Quirligkeit, Oberflächlichkeit; Cholerik: Schaffensdrang, Zorn. Dann meine Frage: Fällt Ihnen an der Schilderung etwas auf?

Es war niemand aufgefallen, dass die vier positiven Seiten der Temperamente vollständig fehlten! Da waren Lehrer, Erzieher und Eltern dabei.

Ich habe den Verdacht, dass die Temperamente mittlerweile viel zu einseitig gesehen werden, trotz der wunderbaren umfassenden neueren Beschreibungen von H. Eller, P. Lipps, G. Scheer-Krüger und vielen anderen. Was fehlt, ist das Verständnis für das Temperament als Werdendes, als Zukunftskraft in uns. Da reicht es nicht, die geisteswissenschaftlichen Angaben Steiners zu tradieren, zum Beispiel: Das individuelle Ich-Wesen (gelb) verbindet sich mit dem Erbstrom (blau) und bildet das Temperament (grün).

Oder: Die Temperamente entsprechen einer Dominanz von Erde/Physischem Leib (melancholisch), Wasser/Ätherleib (phlegmatisch), Luft/Astralleib (sanguinisch), Feuer/Ich (cholerisch).

In solcher Weise tradierte Erkenntnisse lassen das Temperament als etwas Gewordenes, aus der Vergangenheit Stammendes erscheinen. So ist zu verstehen, dass sie ihre Bedeutung in der Gegenwart verlieren, denn es fehlt die Zukunftsseite, die für das Erleben der Wirklichkeit unbedingt erforderlich ist.

Jedes Temperament fordert bei Pädagogen andere Kräfte heraus

Steiner weist auf den werdenden Menschen. Dieser Zukunftsaspekt zeigt sich in den sogenannten vier Alterstemperamenten: dem sanguinischen der Kindheit, dem cholerischen der Jugend, dem melancholischen der Lebensreifezeit und dem phlegmatischen Temperament des sogenannten Greisenalters. Hier verbergen sich die starken positiven und zukunftsorientierten Kräfte der Temperamente.

Diese zeigen sich dadurch, dass das Leben sich entwickelnd fortschreitet von der Geburt und Kindheit bis zum Greisenalter und Tod. Unabhängig vom Lebensalter tragen wir alle vier Zustände immer in uns. Auch das Schulkind trägt etwas in sich vom jugendlichen, reifen und alten Menschen.

In der pädagogischen Praxis brauche ich vor allem den Blick auf diese Werdekräfte:

• sanguinisches Kind: Aufmerksamkeit, Unbefangenheit, Hingabe;

• cholerisches Kind: Initiativkraft, Zielstrebigkeit, Achtungswille;

• melancholisches Kind: Ernst, Andacht, Mitgefühl;

• phlegmatisches Kind: Ruhe, Sachlichkeit, Umkreisbewusstsein.

Die pädagogischen Maßnahmen, die Steiner empfiehlt, stärken vor allem diese zukunftsgerichteten Kräfte. Pädagogen gewinnen an innerer Zukunfts- und Lebenskraft, wenn sie sich darauf einlassen.

Jedes kindliche Temperament fordert bei den Erziehern und Pädagogen andere Kräfte heraus:

• das sanguinische: Liebesfähigkeit, geduldiges Mittragen;

• das cholerische: Selbstbeherrschung, Standvermögen;

• das melancholische: Helferwille, Mitgefühl;

• das phlegmatische: Geistesgegenwart, innere Aufmerksamkeitskraft.

Das macht die Erziehung beweglich und fördert beim Lehrer Eigenschaften, die durch direktes Eingehen, Interaktion und Selbsterkenntnis in dreifacher Weise seine Herzenskräfte aktivieren.

Auch das Bilden von Sitzgruppen mit ähnlichem Temperament stärkt die Lehrerpersönlichkeit in ihrem Zentrum. Als »herzliche Autorität« kann sie im Sozialen der Klasse durch Handhaben der Temperamente ausgleichend wirken.

Handhaben heißt, das Temperament als Lebenskraft und Zukunftsimpulsator zu erfassen, leiten und einsetzen zu können.

Zum Autor: Wolfgang Leonhardt, ehemaliger Schularzt in Pforzheim. Zum Thema hat der Autor ein Buch verfasst: Temperamente und Lebenswirklickeit. Zur Erneuerung der Temperamentenlehre in Pädagogik und Selbsterkenntnis, bookondemand, Berlin 2016, 209 S., Euro 18.50