Die Trägheitstonne

Jürgen Brau

Einmal in der Woche ist Waschtag. Nasse Wäsche trocknet im Schleudergang, indem man sie vom Wasser trennt. Die nasse Wäsche wird bei schneller Drehung der Schleuder an den Trommelrand gedrückt, wobei Wassertropfen durch die kleinen Löcher in der Trommel entweichen. Man denkt sofort an das Erlebnis der Fliehkraft, die das bewirkt – wie in einem Karussell oder in einem Auto, das eine scharfe Kurve fährt. Nicht so der Physiker, denn physikalisch existiert die Fliehkraft überhaupt nicht, sie ist als eine »Scheinkraft« abhängig vom Bezugssystem und taugt daher objektiv nicht zur Begründung, warum die Wäsche trocken wird.

Einmal im Jahr ist Abiturprüfung, auch an Waldorfschulen. Das 7. bzw. 8. Prüfungsfach Physik wird, je nach Bundesland, klassenweise hospitiert oder gleich als Jahresleistung abgenommen. Ab und zu finden aber auch mündliche Einzelprüfungen statt, die zu interessanten Diskussionen mit den Fachkollegen vom Gymnasium führen können.

Warum die Wäsche in der Trommel auch ohne Fliehkraft trocken wird

Das übliche Prozedere einer mündlichen Abiturprüfung sieht vor, zunächst einen Prüfungsvorschlag einzureichen, bestehend aus zwei ausformulierten Aufgaben samt detailliertem Erwartungshorizont und Bewertungsskala, der meistens im Sinne einer lernplantauglichen Sprechweise korrigiert wird: Das ist zeitaufwändig, aber der Staat möchte ja gleiche Prüfungsbedingungen für alle und auf keinen Fall einen Formfehler begehen! Ob Waldorfschüler angesichts von acht Prüfungsfächern unter gleichen Bedingungen wie Regelschüler ins Abitur starten, wäre zumindest zu bezweifeln.

Eine beliebte Prüfungsaufgabe ist das sogenannte »Fadenstrahlrohr« – ein Schlüsselexperiment zur Bestimmung der spezifischen Ladung (dem Ladungs-Masse-Verhältnis) des Elektrons, in dem viel Physik steckt: Man zwingt einen Elektronenstrahl mittels Magnetfeld auf eine Kreisbahn, deren Radius gemessen wird und mit den bekannten Kenngrößen wie der Magnetfeldstärke und der Beschleunigungsspannung zum gewünschten Ergebnis führt. Die dabei auftretenden Kräfte liefern den entscheidenden Ansatz. Welche Kräfte wirken aber auf ein kreisendes Elektron respektive einen Wassertropfen in der Wäschetrommel? Die Fliehkraft jedenfalls nicht, sagt der Physiker. Er bemüht stattdessen die Trägheit: Während die träge Wäsche von der löchrigen Außenwand der Trommel aufgehalten wird, flutschen die trägen Wasserstropfen hindurch. Die Außenwand übt demnach eine Kraft aus, die der Flieh- oder Zentrifugalkraft entgegengesetzt gleich ist, Zentripetalkraft genannt, und der Trägheit Paroli bietet. Beim Karussellfahren sind es die Seile, beim Auto die Karosserie, die die Trägheitskräfte kompensieren. Beim kreisenden Elektron entspricht die Zentripetalkraft der elektromagnetischen Lorentzkraft – das wäre der korrekte Ansatz in der prüfungstauglichen Formulierung, die Fliehkräfte tunlichst vermeidet.

Mein Vorschlag, die Wäscheschleuder dann doch besser in »Trägheitstonne« umzubenennen, wurde als wahrscheinlich wenig verkaufsfördernd, aber humorvoll zur Kenntnis genommen. Ist die Fliehkraft also »Mumpitz« (Schulz), oder was liegt dieser Anekdote aus dem letzten Physik­abitur ernsthaft zugrunde?

Unterschiedliche Fragerichtungen

Ich bemühe mich, meinen Schülern die Physik nicht nur als Naturwissenschaft, sondern auch als »Kulturereignis« (Basfeld) nahezubringen, das unsere Lebens- und Denkweise maßgeblich beeinflusst. Das kann nach meiner Erfahrung über den zwölfjährigen Waldorflehrplan hinaus auch im Prüfungsjahr ein weiterer, echter Zugewinn sein, der den jungen Menschen in die Welt einbindet. Die Einbindung setzt das subjektive Erleben voraus, das man im Rahmen einer vermeintlich »objektiven« Physik ausschließen möchte – wenngleich längst bekannt ist, dass es »keine Objektivität vor geöffneten Objektiven« gibt (Theißen). Man kann nichts über die Natur sagen, ohne über sich selbst zu sprechen.

Hier treffen zwei diametral entgegengesetzte Fragerichtungen aufeinander. Waldorfschüler sind es gewohnt, vom Erleben auszugehen, sie antworten etwa auf die Frage nach der Bedeutung der Zahl 7 mit »3 plus 4« oder »8 minus 1« oder den »sieben Weltmeeren« oder meinetwegen auch mit den »sieben Zwergen«. Der Erwartungshorizont in einer Abiturprüfung beschränkt sich hingegen auf die Beantwortung der Frage »Was ist 3 plus 4?« und damit auf 7. Das schließt andere Möglichkeiten von vornherein aus und zementiert eine Denk- und Sprechweise, die nicht weiter hinterfragt wird.

Im Operatordschungel

Die zunehmende Formalisierung der Sprache drückt sich im Kernlehrplan durch »Operatoren« aus, die drei Anforderungsbereichen zugeordnet sind und die Fragerichtung (die Erwartungshaltung) vorgeben. Das Prüfungsgespräch droht damit zu erstarren: Auf eine formal richtig gestellte Frage erwartet man die »richtig formulierte« Antwort. Das hat etwas von geistigem Apportieren. Offene Fragen haben in so einem Prüfungskontext keinen Platz. Gerade diese sind aber geeignet, die Prüfenden am Denkerlebnis des Prüflings teilhaben zu lassen und dabei zu bemerken, wie er die Physik verstanden hat. Ein unbefangener Austausch darüber kann ein wirkliches Gespräch, auch in einer Prüfung, nur bereichern. Denn wir erleben mehr als wir begreifen (Dürr, Oesterreicher).

Gleiche Bedingungen für alle?

Die Prüfungswirklichkeit sieht zur Zeit anders aus und treibt ihre Stilblüten. Die »Trägheitstonne« wird jedenfalls kein Verkaufsschlager werden! Unsere Abiturienten brauchen sich dahinter nicht zu verstecken, sie überzeugen durch ihr originelles, lebendiges Denken. An der Schnittstelle zwischen Waldorfpädagogik und zentralem Prüfungswesen zeigt sich vielmehr die Notwendigkeit, endlich zu Abschlüssen in Eigenregie mit anerkannter Hochschulzugangsberechtigung zu kommen, bei denen nicht nur prüfend berücksichtigt wird, was formal, sondern auch wie erlebt etwas verstanden wurde: eine Aufgabe für die nächsten 100 Jahre Waldorf.

Zum Autor: Jürgen Brau ist Oberstufenlehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Bielefeld.

Literatur: J. Schulz: Ist Fliehkraft Mumpitz?, www.quantenwelt.de, 19.6.2014 | M. Basfeld: Die Physik als Kulturereignis. Zur Gestaltung des Physikunterrichts, in: Friedrich-von-Hardenberg-Institut für Kulturwissenschaften (Hrsg.): Kultur: Lebensformen der geistigen Individualität, Heidelberg 1998 | G. Theißen, in: DIE ZEIT Nr. 14 vom 29.3.1996 | H.-P. Dürr, M. Oesterreicher: Wir erleben mehr, als wir begreifen, Freiburg 2007