Die Verwaltung der Selbstverwaltung

Uwe Lange

Seine Vorstellung, diejenigen, die unterrichten und erziehen, sollten auch die Administratoren der Schule sein, erfordert bis heute in der praktischen Umsetzung Anpassungsfähigkeit und einen Tribut an den Zeitgeist. Damals waren es vor allem zwei widerstrebende Kräfte, die in Einklang gebracht werden mussten: die staatlich vorgegebenen Lehr- und Abschlussziele und die Ideale eines freiheitlichen Erziehungswesens. Zwischen Kompromiss und Mission sollte die Waldorfschule als praktischer Beweis für die Durchschlagskraft einer Pädagogik stehen, »die lediglich darauf Rücksicht nimmt, so zu erziehen und zu unterrichten, wie es der Mensch, wie es die menschliche Gesamtwesenheit erfordert«.

Realer Boden und Idealbild

Der reale Boden einer Waldorfschule ist heute nicht nur von staatlich vorgegebenen Lehrzielen bestimmt, er ist durchdrungen von Sicherheitsauflagen an Gebäuden und bei personenbezo­genen Daten, von der Erfüllung gymnasialer Raumprogramme sowie steuer- und schulfinanzierungsrechtlichen Anforderungen. Die Elternschaft wird zunehmend geprägt von Brüchen in den Erwerbsbiographien sowie von der ökonomisch besonders verletzlichen Ein-Eltern-Familie. Dabei haben sich Aspekte der »Verwaltung« in den letzten Jahren deutlich in den Vordergrund geschoben. So ist es nicht verwunderlich, dass sich das Postulat der Selbstverwaltung einer Lehrerrepublik im freien Geistesleben heute primär auf Inhalte und Aufgaben der pädagogischen und technischen Konferenzen und deren Delegationen konzentriert und nicht mehr auf die operative Führung des Schulbetriebes im wirtschaftlich-technischen, rechtlichen und administrativen Sinn. Dem Idealbild der Lehrerselbstverwaltung versucht man heute durch Delegation von mindestens einem Lehrer in die zentralen nicht-pädagogischen Verwaltungsgremien einer Schule nachzukommen.

Der große Unbekannte

Die eigentliche Verwaltung im operativen Sinne verantwortet in vielen Schulen jedoch ein ehrenamtlicher Vorstand, der sich regelmäßig einer Geschäftsführung im Anstellungsverhältnis bedient. Unterstützt durch Verwaltungsmitarbeiter und Gremien bildet der Geschäftsführer die Klammer zwischen den wesentlichen Organen und Kreisen. Ihm obliegt es, den Kreislauf der Informationen, Prozesse, Aufträge und Anforderungen sicherzustellen und zu koordinieren. Gleichzeitig ist er jedoch der große Unbekannte. Die anthroposophische und waldorfpädagogische Literatur kennt ihn nicht. Außer auf den Mitgliederversammlungen ist seine Rolle in der Schulöffentlichkeit kaum wahrzunehmen, doch gebraucht wird er mehr denn je. In der Begegnung mit ihm spiegelt sich das Selbstverständnis einer Schulgemeinschaft. Eltern haben oft ein Berufsbild eines Geschäftsführers, das sie aus der freien Wirtschaft kennen; Schulvorstände sehen sich ihm gegenüber eher in der Arbeitgeberrolle. In der Regel verantwortlich für mehr als 50 Mitarbeiter in Festanstellung, einen Umsatz von drei bis vier Millionen Euro jährlich und Finanzierungsvorhaben, die regelmäßig die Millionengrenze für Baumaßnahmen überschreiten, deckt der Waldorfschulverein das operative Spektrum eines kleinen bis mittleren Unternehmens ab.

Komplexe Anforderungen an die Geschäftsführung

Geschäftsführer müssen die unterschiedlichsten Anforderungen aus den Gebieten der Finanzwirtschaft, der Personalführung, des Rechts, der Organisationsentwicklung und Öffentlichkeitsarbeit sowie der Gremienmitarbeit erfüllen. Diese Aufgaben erzeugen die vielfältigsten Prozessabläufe und Gestaltungsanforderungen sowie Kommunikations- und Informationsbedürfnisse, die nicht nur den gesamten Schulorganismus beeinflussen, sondern auch nach außen wirken. Hinzu kommen die schulinternen Adressaten der Verwaltung, deren Rollenverständnis heterogener nicht sein kann. Sie stellen ein hochkomplexes und kompliziertes soziales Gebilde dar (vgl. Harslem).

Schulen wünschen sich daher eine Persönlichkeit, die neben den fachlichen Anforderungen ausgeprägte soziale Kompetenzen mitbringt und ein hohes Maß an Selbstführungskompetenz und Empathie aufweist, gepaart mit einer überzeugenden Haltung zur Anthroposophie und Pädagogik Rudolf Steiners. Herrscht ein Mangel an solchen Kompetenzen, dann entstehen Verständnisprobleme und ein Verlust der Ressourcen.

Die neuesten Studien über die Selbstwahrnehmung von Geschäftsführern beruhen auf Daten von 2010/2011 (Koolmann 2016). Sie klagen vor allem über eine signifikante Arbeitsüberlastung (Boettger 2011) und eine hemmende Unzufriedenheit mit der Funktionsweise der Selbstverwaltung (Koolmann 2016). Dass nur ein Drittel der damals angeschriebenen 219 Waldorfgeschäftsführer an der Studie teilgenommen hat, spricht für sich. Steffen Koolmann gibt denn auch in seiner Studie zur »Zukunftsgestaltung Waldorfschule«, die Empfehlung, die Beteiligten für die Verwaltungsarbeiten kompetenter zu machen.

Pädagogik und Verwaltung werden auseinanderdividiert

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die sozialen Prozesse, Führungsfragen und die Arbeitsgrundsätze kollegialer Selbstverwaltung (Enderle 2019). Zu Recht könnte man meinen – sind doch die wesentlichen Akteure einer kollegialen Selbstverwaltung nicht die nicht-pädagogischen Mitarbeiter, sondern die Lehrkräfte wie auch die in unterschiedlichen Gremien mitwirkenden Eltern.

Doch genau an diesem Punkt zeigt sich ein großes Missverständnis, das selbst in mancher Gehaltsordnung deutlich abzulesen ist: das Auseinanderdividieren einer Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Zielsetzung in pädagogische Mitarbeiter und Verwaltungskräfte, wo doch das größte Gestaltungs- und Impulspotenzial für die oben dargestellten operativen Aufgaben und sozialen Prozesse in der Geschäftsführung und Verwaltung liegt. Dort geht jeder hin, dort verbindet sich alles. Hier werden nicht nur Zuschussanträge gestellt und Schulbeiträge eingezogen, hier findet das »Verwaltungsleben« einer Schule statt. Dieses Leben gleicht einem großen Marktplatz, dessen geschäftiges Treiben bereits vor dem Unterricht beginnt, wo die ersten Anliegen von Schülern, Eltern und Lehrern nach Unterstützung, nach einem offenen Ohr, nach einer Lösung suchen, wo Informationen – ob Gehörtes oder Durchdachtes – ausgetauscht und diskutiert werden. Oftmals endet das letzte Gespräch dann erst spätabends auf den Fluren der Schule. Die große Herausforderung der Geschäftsführung besteht darin, aufmerksam zu sein, Werdekräfte zu erkennen und weiterzuverfolgen, den Verwaltungsmitarbeitern wie auch Lehrern, Eltern und Schülern zu signalisieren, dass sie wichtig sind und vor allem andern: sie mitzunehmen auf dem gemeinsamen Weg.

Erfahrungen aus meiner langjährigen Tätigkeit als Elternvorstand einer Waldorfschule haben mich gelehrt, dass dieses fortwährende Streben nach Gestaltveränderung gerade auch innerhalb der Administration zum Wesen einer jeden Waldorfschule gehört und sich deren Qualität des Lebendigen wiederkehrend an vier grundsätzlichen Fragestellungen beurteilen lässt.

Vier Qualitäten der Administration

• Wie kommuniziere ich?

Ob nun als Teilnehmer einer Vorstandssitzung oder einer Mitgliederversammlung, vielen sind zwar jene gutgemeinten detaillierten Zahlenkolonnen und Übersichten aus der Verwaltung bekannt, die einen jedoch mehr erschöpfen, als den Blick auf Wesentliches lenken. Anstatt Informationen zu vermitteln, die Entscheidungsprozesse in Gang setzen, verliert man sich in der Erklärung und Beantwortung von Verständnisfragen.

Es ist unstrittig eine Herausforderung, einer Schulgemeinschaft in ihrer Heterogenität gerecht zu werden. Doch immer ist es das Gegenüber, das erreicht und gehört werden will. Und es ist immer ein gegenseitiger Vertrauensimpuls, der gleich dem Pendel einer Standuhr zwischen Verwaltung und allen anderen immerfort hin- und herschwingt.

• Wie organisiere ich Abläufe wirtschaftlich und transparent?

An der Umsetzung der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zeigt sich exemplarisch das Potenzial einer von außen auf den Schulorganismus wirkenden Verpflichtung. Sie kann als bürokratischer Ballast in die Schulgemeinschaft hineingetragen werden oder eine Chance eröffnen für die Sensibilisierung aller im Umgang mit persönlichen Daten. Und einen Schritt weitergedacht, bietet dies Gelegenheit, bei der Durchforstung der Abläufe Wildwuchs und lebloses Geäst auszuschneiden, Überkommenes in Frage zu stellen – zugunsten von Effektivität und Transparenz. Dabei geht es einerseits um die versachlichte Nutzung sozialer Medien, zum Beispiel im Hinblick auf Informationsbereitstellung, aber vor allem um die Chancen vielfältiger digitaler Vereinfachung von Verwaltungsabläufen.

Gängige Anwendungsprogramme sowie frei zugängliche Software bieten heute vielfältige Funktionen, die Arbeitserleichterungen und Zeiteinsparungen schaffen. So produziert jede Schule eine Vielfalt an Schriftstücken, von Schulverträgen bis hin zu Zuschussanträgen und sonstigem Briefverkehr. Diese Unterlagen werden zum Teil von verschiedenen Menschen in der Schule genutzt und liegen regelmäßig in physischer Form in Aktenschränken. Eine digitale Bereitstellung, versehen mit einer nutzerspezifischen Berechtigung, ermöglicht hingegen leichte Wiederauffindbarkeit, schnellen Zugriff und schafft Platz.

• Wie werde ich vom Verwalter zum Gestalter?

Es darf keine Haltungsfrage einer Geschäftsführung sein, ob alles über ihren Tisch läuft. Vertrauen statt Kontrolle schafft Freiräume, motiviert den Einzelnen und schafft neue Möglichkeiten. Mitarbeiter in der Verwaltung, die tagtäglich mit Lehrern, Eltern und Schülern in Kontakt treten, werden zusätzlich in ihrer Verbundenheit mit der Schule gestärkt. Die Geschäftsführung mit ihrer Allgegenwart in den verschiedensten Gremien, mit ihrem Ein- und Überblick strahlt sowohl nach innen wie nach außen. Ist sie sich dieser Wirkmacht bewusst, vermag sie nicht nur die Geschäftsgrundlage der Schulgemeinschaft sicherzustellen, sie kann auch Leuchtturm einer kollegialen Selbstverwaltung sein. Damit kann sie Vertrauens- und Fähigkeitsimpulse freisetzen, Verständnis schaffen sowie Menschen und Sachverhalte zusammenbringen.

• Wie anerkenne und nutze ich die vielfältigen Potenziale der Menschen innerhalb der Schulgemeinschaft?

Delegation in der Selbstverwaltung ist einerseits ein nicht wegzudenkendes Mittel der Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen, andererseits setzt sie ein hohes Maß an Koordination und Selbstführungskompetenz bei den Beteiligten voraus.

Auch hier kann die Geschäftsführung eine tragende Aufgabe übernehmen – nämlich frühzeitig zu erkennen, dass die Anforderungen und die Fähigkeiten eines Menschen zusammenpassen, dass eben nicht unterschwelliger Egoismus oder gar Eigennutz sich über gemeinsame Ziele und Absichten legen. Gepaart mit einer dialogischen Führung fördert sie die Selbstbestimmung des Einzelnen für das gemeinsame Ganze. Dazu muss (nicht nur) die Geschäftsführung bereit sein, sich zurückzunehmen – auch wenn sie glaubt, es besser zu können. Sie muss die Handlung des Anderen aushalten und beibehalten, wenn ihm die Aufgabe übertragen wurde. Je nachdem, wie die Geschäftsführung und Verwaltung diese Fragen beantwortet, wirkt sie damit positiv oder negativ in die ganze Schulgemeinschaft hinein – und darüber hinaus.

Zum Autor: Uwe Lange ist freiberuflicher Organisations- und Wirtschaftsberater, war fast zwei Jahrzehnte in der Privatwirtschaft tätig und langjähriger Elternvorstand einer Waldorfschule. www.menschenkraft.org

Literatur: Chr. Boettger: Sind Geschäftsführer an Waldorfschulen zufrieden?; I. Enderle: Kollegiale Selbstverwaltung als Führungsprinzip, Theoretische Rekonstruktion und empirische Untersuchung der Arbeitsweise Freier Waldorfschulen, Wiesbaden 2019; M. Harslem: Kriterien für Waldorf-Geschäftsführer/innen, ; M. Harslem: Entwicklungsbegleitung: ; S. Koolmann et al.: Waldorfschulen und ihre zukünftigen Herausforderungen – eine organisationsstrukturelle Betrachtung, Rose – Research on Steiner Education, Volume 7, Number I, Juli 2016, S.62; R. Steiner: Erziehung zum Leben, GA 297a, S.30, 1998, Vortrag v. 24.2.1921; R. Steiner: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule, GA 300a