Digitalisierung ist Teil unseres Weges

Andrea und Gregor Härty

Rudolf Steiner spricht davon, dass es in unserer gegenwärtigen Kulturepoche um die Ausbildung der »Bewusstseinsseele« gehe. Deren Aufgabe ist es, Vorstellungen von wahr oder falsch von jeglichen Sympathien und Antipathien zu befreien, um sich der Wahrheit zu nähern. Wahrheit ist wahr, auch wenn sämtliche persönliche Gefühle gegen sie sprechen. Sich einer Wahrheit annähern zu können – auch wenn sie mir nicht »schmeckt« – wird von unserer zunehmenden Abstraktions- und Reflexionsfähigkeit unterstützt.

Die Industrialisierung ist ein solcher Weg in die Abstraktion. Die Maschine abstrahiert den handwerklichen Schöpfungsprozess in ein sinnfreies Produzieren von Produkten (Industrie 1.0). Durch die Einführung der Fließbandarbeit (Industrie 2.0) ist dieser Prozess immer weiter verfeinert und automatisiert worden. Elektronik und Computer (Industrie 3.0) weiten diese Entwicklung auf viele weitere Bereiche aus. Der Mensch wird immer mehr zum Bediener der Technik und führt Hilfsarbeiten aus, damit die Maschinen funktionieren. Die Hauptaufgabe vieler Menschen besteht aus stupiden Arbeiten, wo es rein um Massenproduktion geht. Die Maschine muss bestückt werden, die fertigen Produkte müssen verpackt werden, im Büro müssen die Aufträge in ein Computerprogramm eingegeben werden – alles sinnfreie Arbeit, damit der »Apparat« funktioniert, die Produktion läuft, die Maschinen und die Computer arbeiten können. Die Digitalisierung als Teil dessen, was heute unter dem Namen Industrie 4.0 in Deutschland bekannt ist, führt diesen Weg in die Abstraktion fort. Eines der Hauptziele ist es, die heute noch von Menschen ausgeführten Schritte ebenfalls zu automatisieren. Die Produktions- und Verwaltungsabläufe werden mittels Daten nach vorgegebenen festen Mustern möglichst ohne menschliche Eingriffe abgearbeitet. Aus der Perspektive der Abstraktion dient die Digitalisierung der Befreiung des Menschen von einfachen, lästigen und sinnfreien Arbeiten, ohne dass die Produktivität leidet und der materielle Wohlstand Einbußen erleidet. Noch nie in der Geschichte konnte der Mensch mit so geringem eigenem Aufwand seine Grundbedürfnisse stillen und den materiellen Wohlstand erreichen. Genau hier liegt eine große Gelegenheit unserer Zeit.

Eine neue Freiheit

Durch Digitalisierung entsteht Freiraum. Die Menschen haben plötzlich Zeit, die sich frei und ohne Zwang ergibt. Diese neuen Möglichkeiten könnten eine Gesellschaft verändern, ja revolutionieren. In die Leistungsgesellschaft und ihr Credo »immer schneller, weiter, höher« könnte eine innere Zufriedenheit einziehen.

In der gesamten Zeit der Industrialisierung hat die Menschheit ihren Fokus auf einen einseitigen Materialismus gelegt und dabei die Gesunderhaltung und das Wohl des Menschen, des Tieres und der Natur aus den Augen verloren. Hier existiert mittlerweile eine Vielzahl von wichtigen und dringenden Aufgaben, die gelöst werden wollen – im Großen, wie im Kleinen. Beispiele sind die menschenwürdige und angemessene Alterspflege, die Unterstützung von Hilfsbedürftigen, die Erziehung und Begleitung der Kinder und die vielfältigen Integrations- und Inklusionsaufgaben. All diese Bereiche lassen sich nicht wirklich mit Kostendruck und zeitlicher Taktung vereinbaren.

Im Umgang mit Müll, Naturverschmutzung und Umweltbelastungen heißt es, kreative und innovative Ideen zu entwickeln und auch konkret sinnvoll zu handeln. Digitalisierung kann diesen Freiraum schaffen. Wenn man die Zeit hat, den Blick in der Breite der Gesellschaft auf solche Projekte des Gemeinwohls zu lenken, dann wird sich jeder der Verantwortung bewusst, die er trägt – die wir alle tragen. Der einzelne Mensch kann seine Begabungen erkennen und wahrnehmen – das, was in ihm angelegt ist, entwickeln. Wer sich beispielsweise mit Garten- und Feldbau beschäftigt, wird dies aus dieser Freiwilligkeit heraus mit einem ganz anderen Blick und mit ganz anderen Zielen verfolgen. Der Blick auf die höchsten Subventionen vom Staat, die besten Verkaufsmöglichkeiten und den geringsten Aufwand weicht und richtet sich nun auf die Qualität der Lebensmittel, die Schönheit und die Achtung der Natur und die Freude am Prozess. Die Zeit zu haben, die Erde mit den Händen zu spüren und die Entwicklung des Gartens wahrzunehmen ist ganz besonders.

Wer sich beispielsweise jetzt ohne Zeitdruck mit Schreinerarbeiten beschäftigt, kann wieder Freude am Bearbeiten des Materials erleben, die Individualität des Holzes entdecken und auch aufwendigere, gestalterische Wünsche umsetzen. Nichts ist schöner, als sich mit Schönem zu umgeben – erst recht, wenn man das ein oder andere Stück selbst hergestellt hat.

Mit Freiraum als Grundvoraussetzung setzt auch ein gestaltender, kreativer Prozess beim Menschen ein. Der gestaltende Mensch schafft nicht nur Schönes und Kreatives und verändert damit seine Umwelt, sondern auch sich selbst, sein soziales Gefüge, seine Begriffe und sein Denken.

Wie auch immer der einzelne Mensch den neugewonnenen Raum für sich in dieser Art nutzt, werden sich die grundlegenden Ziele und Sichtweisen verändern. Und das wiederum führt, bewusst oder unbewusst, jeden in seiner individuellen Art, zu einem anderen Blick auf sich selbst und erfüllt die tiefe Sehnsucht unserer Zeit, dass wir uns wahrnehmend, erkennend und handelnd über das rein Physische erheben wollen. Schritt für Schritt schärft sich das Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse, die aktuelle Konstitution und das eigene Temperament und die dadurch entstehenden inneren Kräfte. Dies ist gerade ein Schritt auf dem Weg zur Ausbildung der Bewusstseinsebene. Steiner vertrat schon 1922 die Auffassung: »Die kalte Technik gibt dem Menschendenken ein Gepräge, das in die Freiheit führt. Zwischen Hebeln, Rädern und Motoren lebt nur ein toter Geist, aber in diesem Totenreiche erwacht die freie Menschenseele.«

Wo das Risiko liegt

Neben der großen Chance, den entstehenden Freiraum nutzen zu können, birgt die Entwicklung auch gewisse Risiken in sich, indem man an den heutigen Rahmenbedingungen festhält und den Freiraum durch andere Arbeit ersetzt, die sich von den heutigen Grundbedingungen der Arbeit nicht unterscheidet.

Weiterhin wird die Erhöhung der Wirtschaftsleistung im Vordergrund stehen. In diesem Falle würde die Digitalisierung missbraucht werden, mit Arbeitslosigkeit zu drohen und Zugeständnisse einzufordern. Hierin findet sich ein Muster, in welchem bewusst, gekonnt und gut verschleiert mit den Ängsten der Menschen gespielt wird. Ein solcher Weg führt jedoch zu immer größerer Unfreiheit – egal mit welchen Positivargumenten – wie zum Beispiel Bequemlichkeit und Optimierung – dieser Weg angepriesen wird. Hinzu kommt, dass durch die Digitalisierung sich heute schon eine anlasslose Überwachung und umfassende Nachverfolgbarkeit im Internet abzeichnet. Digitale Kommunikation birgt ein hohes Maß an Missbrauchspotenzial in sich. Es ist zu fragen: Was nützt mir künstliche Intelligenz und inwieweit schränkt mich dieser Nutzen ein. Wenn ein Programm »vordenkt« und mir vorgibt, was ich möchte, dann ist es keine Hilfe, sondern es ist Bevormundung. Wenn mich eine Maschine einschränkt und ich mich nur noch nach ihr richten muss in den Arbeitsschritten oder im Rhythmus, dann ist das kein Nutzen, sondern Entmündigung.

Es ist das Paradox der Digitalisierung, dass sie uns einerseits Freiraum bietet, andererseits die Freiheit nimmt. Da hilft es nur, sich dessen bewusst zu werden, die Chancen zu erkennen und daraus eine gemeinsame Vision zu entwickeln. Denn daran fehlt es heute in der Gesellschaft und der Politik besonders: Es gibt keine Visionen für die Zukunft. Man verweilt lieber beim Status quo und regelt nach.

Mit so einer Vision passen das übliche Vorgehen beim Einkommen, die Besteuerung, das Arbeitslosengeld und die Rente nicht mehr in die Zeit und müssen neu gedacht werden. Das Verhältnis Mitarbeiter und Unternehmen bekommt eine andere Ausrichtung. Die Schulen spielen eine wesentlich andere Rolle als heute. Für jeden Einzelnen wird es ein Paradigmenwechsel, der sich nur Schritt für Schritt vollziehen kann. Die Digitalisierung ist Teil unseres Weges, den wir mutig gehen sollten, mit dem Wissen, dass er uns eine Chance zur Freiheit eröffnet, wenn wir ihn wach und menschlich aktiv gestalten. Gelingt uns das nicht, wird sie uns bevormunden.

Zu den Autoren: Andrea Härty ist Klassenlehrerin an der Waldorfschule Coburg und selbst ehemalige Waldorfschülerin. Gregor Härty ist ehemaliger Waldorfschüler, arbeitet als freier Berater für Unternehmen und ist als Mitglied eines mittelständischen Familienunternehmens in der Möbelindustrie aufgewachsen.

Literatur: R. Steiner: Theosophie, GA 9, Dornach 1987; R. Steiner: Mysterienwahrheiten und Weihnachtsimpulse. Alte Mythen und ihre Bedeutung, GA 180, Dornach 1980; R. Steiner: Die Waldorfschule und ihr Geist, GA 297, Dornach 1988; R. Steiner: Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart, GA 36, Dornach 1961; C. Gleide: Lebensgeist – der verwandelte Ätherleib, Erziehungskunst, Oktober 2015