Embodiment für die Elternarbeit
Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einer Gruppe von Menschen und müssen in kurzen, prägnanten Worten nicht nur aktuelle Geschehnisse zur Diskussion bringen, sondern auch eine kleine, passende Passage aus der anthroposophischen Entwicklungslehre, die in ihrer Begrifflichkeit und in ihrem Menschenbild nicht allen Anwesenden geläufig ist.
Wer genau hinsieht, findet da die Interessierten, die auf neue Erkenntnisse hoffen, die Weghörer, die in Gedanken ganz woanders sind und dann diejenigen, die mit donnernden Worten ihren Unmut ob der hier vertretenen Äußerungen kundtun. Nun, so habe ich teilweise in meiner Studienzeit Elternabende erlebt und war der Meinung, dass es – sollte das anthroposophische Menschenbild tragfähig sein – auch mit anderen Worten dargestellt werden könnte. Elternarbeit ist gerade an Waldorfschulen sehr wichtig und es wäre wünschenswert, dem Lehrer ein Werkzeug in die Hand zu geben, mit dem er die heutige Generation von Eltern leichter erreichen kann. Doch die Grundlage dafür dürfte keine Theorie sein, die nur vom körperlichen, sondern auch vom seelischen und geistigen Ausdruck ausgeht; die Auffassung müsste in ihrer Begrifflichkeit der heutigen Welt gerecht werden, ohne die Weltanschauung der Anthroposophie zu tangieren: Meiner Ansicht ist die Antwort auf dieses Problem Embodiment.
Was ist die Embodiment-Theorie?
Die westliche Gesellschaft war etwa ab der Mitte des letzten Jahrhunderts von einem großen technologischen Optimismus durchdrungen. Es wurde angenommen, dass innerhalb weniger Jahre intelligente Rechner gebaut werden könnten, die durch ihr Verhalten kaum noch von Menschen zu unterscheiden seien. Doch der Zukunftsglaube an einen wirklich denkenden Computer verflüchtigte sich schon bald und die Frage wurde immer brennender, wodurch Intelligenz überhaupt entstehen könnte. »Kann der tiefere Grund für das Versagen von künstlicher Intelligenz in der Vernachlässigung der Beziehung zwischen der Informationsverarbeitung (›Denken‹) einerseits und dem Körper und der Umwelt andererseits zu suchen sein?«, fragt der Schweizer Psychologe Wolfgang Tschacher. Diese Frage führte dazu, dass man den Körper in Bezug auf die Entwicklung des freien Denkens immer mehr einbezog und hier setzte auch die Embodiment-Forschung an. Man suchte den Schlüssel für das Problem des Bewusstseins in der Verkörperung des Menschen und vermutete einen Zusammenhang zwischen Denken und Körper, zwischen Geist und Welt.
Einen sinnlich wahrnehmbaren Körper zu besitzen und damit die Fähigkeit zu haben, Erfahrungen an der Welt zu machen, scheint die wesentliche Voraussetzung für die Entstehung eines unabhängigen Ichs zu sein. Und genau dieser Auffassung ist die Anthroposophie, wenn sie die Verkörperung des Wesens des Menschen auf der Erde als Prämisse für eine Entwicklung des Seelisch-Geistigen sieht. Denken findet nicht allein im Kopf statt, es entsteht in einem Geflecht von Bezügen, welche wiederum in einen Kontext, eine Umwelt eingebettet sind. Diese Umwelt ist auch unser Körper, dem Rudolf Steiner zwölf Sinne zuspricht, als Tore zur Welt. Wir verlassen uns ja im Leben nicht rein auf unser kognitives Wissen, sondern oft genug auf ein Körpergefühl: Wenn wir ein schlechtes Bauchgefühl bei einer Sache haben, so könnte das nach dem anthroposophischen Menschenbild beispielsweise mit dem Lebenssinn (als Gespür für unser inneres Wohlgefühl) oder dem Gleichgewichtssinn (als Sinn der Gerechtigkeit und des Ausgleichs) zu tun haben.
Die Forschungsergebnisse im Bereich embodied cognition machen deutlich, dass Denken und Körper keine unabhängigen Größen sind, sondern dass abstraktes Denken den Körper mit nutzt und durch Haltung und Gestik die kognitiven Prozesse unterstützt. Dieses Wissen ist wichtig für die Schule und kann den Unterricht unterstützen. Studien belegen, dass die Körperhaltung auch eine Emotion im Körper festhalten kann, dass die Mimik zum Textverständnis beiträgt und das praktische Tun das kognitive Verstehen verbessert.
Der Körper führt den Geist
In der Unterstufe der Waldorfschule lassen sich nun Spiele entwickeln, die ganz am anthroposophischen Menschenbild orientiert sind, sich jedoch gleichzeitig die Erkenntnisse aus der Embodiment-Forschung zunutze machen: Alle Kinder gehen langsam im Raum umher und singen Was wollen wir denn machen, wir wissen es noch nicht. Hier nehmen alle Kinder eine neutrale Haltung an, sind offen für alle kommenden Möglichkeiten. Nun ändert sich die Melodie und es heißt beispielsweise: Wir stehen erhaben da, wie eine Eiche. Was sollte nun der Sinn dieses Spiels sein? Wenn ein gutes Sinnbild für etwas gefunden wurde, geht der Körper ganz ohne eine kognitive Korrektur in diese Haltung über. Jedes dieser Bilder lässt das Kind in ein anderes Embodiment treten und beeinflusst die innere Stimmung. Das Eichenbild kann einen zum Beispiel dazu veranlassen, seinen Stand zu stabilisieren und für einige Momente in einer ruhigen, selbstbewussten Stimmung zu verharren. Danach wird diese Haltung wieder zugunsten einer neutralen Haltung aufgelöst.
Als zweites kann auf eine Übung verwiesen werden, die das Raumerleben des Kindes verbessern soll. Audrey McAllen schlägt eine Übung für Schüler vor, um ins Hier und Jetzt zu kommen und sich im Raum zu verorten. Dabei sollen die Hände abwechselnd vor der Brust, über dem Kopf und hinter dem Rücken zusammengeklatscht werden. Wenn nun die Reihenfolge von vorn nach hinten und über den Kopf wieder nach vorn festgelegt wird und dabei ein Säckchen oder ein anderer, leicht auf dem Kopf zu balancierender Gegenstand den Körper dazu bringt, aufrecht zu stehen, so gehen die Schüler bei dieser Übung wie von selbst in eine Selbstbewusstsein ausdrückende Haltung über, in der die Schultern nach hinten geneigt sind, die Brust durchgedrückt wird und die Hände wie in einer Siegerpose nach oben gereckt werden. Immer wieder können sie so von einer neutralen Körperhaltung (die Hände befinden sich vor dem Körper) in diese raumergreifende Haltung hineingehen, selbst ohne innere Bilder. Die Kinder, aber auch die Erwachsenen können so lernen, eine Körperhaltung einzunehmen, die auf sie selbst bildend wirkt. Wer würdevoll dasteht wie ein König, der ist auch im Inneren wie ein solcher. Wer immer wieder die Pose eines Gewinners einnimmt, fühlt sich anschließend auch zuversichtlicher.
Zugänge zur Anthroposophie
Die Früchte dieser Arbeit des Klassenlehrers sind nicht nur schönes Beiwerk, sie werden ganz deutlich im späteren Leben gefordert. Schauen Sie sich einmal die Seite der Agentur für Arbeit an und klicken sich durch das Berufe-Universum, ein kleines Programm, das bei der Berufsorientierung helfen soll: Selbstständigkeit, Konfliktfähigkeit, mathematisches Verständnis, räumliches Vorstellungsvermögen, Zusammenhänge erkennen, Einfühlungsvermögen, Kommunikationsfähigkeit, handwerkliches Geschick, Textverständnis oder Teamfähigkeit sind nur einige wünschenswerte Eigenschaften in der Berufswelt. Durch die anthroposophische Sinneslehre und die richtige Einbeziehung des Körpers werden viele dieser Bereiche permanent angesprochen und spielerisch gefördert.
Das Wissen um die Kraft des Körpers und der Wortschatz der Embodiment-Forschung können dazu beitragen, einer breiten Elternschaft den Zugang zur Anthroposophie zu erleichtern und erst im Nachhinein die Bilder der Waldorfpädagogik hinzuzufügen.
Zur Autorin: Dr. Véronique Bintener ist Klassenlehrerin und Französischlehrerin an der Freien Waldorfschule Bad Kreuznach
Literatur: W. M. Auer: Sinnes-Welten. Die Sinne entwickeln. Wahrnehmung schulen. Mit Freude lernen, München 2010 | V. Bintener: Embodiment als Wirkmechanismus des Waldorfunterrichts. Die Sinneslehre Rudolf Steiners in ihrem Bezug zur physischen, sozial-emotionalen und kognitiven Entwicklung des Menschen, Baden- Baden 2017 | A. McAllen: Die Extrastunde. Zeichen- und Bewegungsübungen für Kinder mit Schwierigkeiten im Schreiben, Lesen und Rechnen, Stuttgart 2020 | R. Steiner: Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, GA 293, Dornach 1992 | W. Tschacher: »Wie Embodiment zum Thema wurde«, in: M. Storch, B. Cantieni, G. Hüther, W. Tschacher (Hrsg.): Embodiment. Die Wechselwirkung von Körper und Psyche verstehen und nutzen, Bern 2011 | K. Wilhelm: »Ich handle, also denke ich«, in: Psychologie Heute, Weinheim 1/2011 | K. Wilhelm: »Mächtiger wirken? Mächtiger werden!«, in: Psychologie Heute, Weinheim 4/2014
Knut Rennert, 12.01.21 18:01
Liebe Frau Bintener!
Das von Ihnen beschriebene Dilemma ist, so denke ich, weit verbreitet und ich kenne selbst sehr viele Lehrer, die Angst vor der Elternarbeit haben. Mehr Wissen und mehr unterschiedliche Argumente zu haben, kann sicher manchmal hilfreich sein, ist aber, so glaube ich, nicht die eigentliche Lösung des Problems. Entscheidender sind m.E. Überzeugung und Authentizität. Mit Überzeugung meine ich, dass jemand gute sachliche und auch persönliche Gründe hat, in einer bestimmten Situation genau das zu sagen, was er sagt, dass er voll hinter dem Gesagten steht. Mit Authentizität meine ich, dass das Gesagte mit dem So-Sein und dem persönlichen Hintergrund der Persönlichkeit zusammenpasst. Dazu gehört auch, wie man mit Ängsten und abweichenden Meinungen umzugehen in der Lage ist.
Zu dieser Frage hat mir, zu einem für mich günstigen Zeitpunkt, ein guter Freund ungefähr das Folgende gesagt: "Du musst dein Verhältnis zu Rudolf Steiner klären, und wenn du schon dabei bist, kläre dein Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft am Besten gleich mit." Das ist mir nicht leicht gefallen, zumal ich da unendlich viele individuelle Möglichkeiten sehe.
Doch durch diese Klärung - wie sie in meinem Fall aussieht ist hier nicht wichtig - hat sich für mich schlagartig Entscheidendes verändert: Die Angst, meine Überzeugung darzustellen und zu vertreten ist völlig verschwunden; Es haut mich nicht mehr um, wenn jemand anderer Meinung ist und/oder meine Ansichten angreift; Und ich fühle mich viel freier auf Fragen und andere Ansichten so einzugehen, dass keine Konfrontation, sondern ein echtes Gespräch entstehen kann.
Wenn ich weiß, wo ich stehe, und sicher bin, dass ich genau da stehen will, kann ich mich auf Eltern einlassen, mich für ihre Fragen, Probleme und Zweifel öffnen und interessieren, eigene Fehler, Unsicherheiten, Kenntnislücken usw. angstfrei eingestehen, und auch Ideen und Gedanken darstellen, die nicht dem allgemeinen Konsens entsprechen. Natürlich kann es da hilfreich sein, auch über nicht-anthroposophische Gesichtspunkte zu verfügen, doch kann ich dann auch problemlos über anthroposophische Menschenkunde usw. sprechen, ohne die Sorge haben zu müssen, dass tiefgreifende Probleme entstehen, wenn das nicht gelingt.
Embodiment zu kennen ist sicher nicht falsch, aber ohne die angesprochene Klärung auch nicht unbedingt hilfreich.
Herzliche Grüße
Ihr Knut Rennert
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