Erziehung: Plan oder Kunst

Dietrich Esterl

Die Entwicklung der Anthroposophie durch Rudolf Steiner wird von Anfang an begleitet von Auseinandersetzungen seiner Schüler um die Frage, was »wahre« Anthroposophie sei, welche Arbeits- und Übungsmethoden die »richtigen« seien.

Dass dabei die Behauptung fester Grundsätze (Dogmen) zu Streit und Lähmung auch in manchen Waldorfschulen führen musste und dass ein Mangel an sachlicher Diskussion bestand (und besteht), wird von Johannes Kiersch zu Recht betont. Waldorfpädagogik wird mehr und mehr von Menschen gestaltet, denen Traditionen immer weniger bedeuten. »Entmythologisierungen« belegen das Streben nach Eigenständigkeit. »Wahrheit« bedeuten sie noch nicht.

Im Blick auf die Waldorfpädagogik möchte ich einen weiteren Aspekt hinzufügen. In der Waldorfpädagogik lautet die Polarität »Lehrplan und Erziehungskunst«. Sie charakterisiert zwei Richtungen des Lehrens: die inhaltsbezogene (in Klasse 12 behandelt man den »Faust«) und die prozesshafte (mit dieser Klasse will ich antike und moderne Dramen vergleichen). Was ist also »wahre« Waldorfpädagogik?

Ein Schlüsselerlebnis waren für mich im Studium die vier Vorträge Steiners »Der menschliche und der kosmische Gedanke«, in denen die Frage nach der »Wahrheit« mit einem Durchgang durch die unterschiedlichsten Weltanschauungen verfolgt wird (GA 151). Steiners Fazit: »Die schlimmsten Feinde der Wahrheit sind die abgeschlossenen und nach Abschluss trachtenden Weltanschauungen, die ein paar Gedanken hinzimmern wollen und glauben, ein Weltgebäude mit ein paar Gedanken aufbauen zu dürfen.« Nicht durch den Inhalt eines Gedankens erfasse man Wahrheit, sondern man nähere sich ihr durch die Art des Denkens. Der »Kampf auf geistigem Felde« wird immer Behauptung von Standpunkten sein, über »Wahrheit« wird hier nicht entschieden. Erst im konkreten Handeln erweist diese sich durch die Fruchtbarkeit des individuellen Prozesses. Das ist nicht nur eine Frage der anthroposophischen Esoterik, sondern auch der pädagogischen Praxis.

Der entscheidende Impuls der Waldorfpädagogik ist die freie Gestaltung des Unterrichts durch den Lehrenden. Vieles vom festen Bestandteil des Lehrplanes beruht schlicht auf der Verabsolutierung von Anregungen Steiners an bestimmte Lehrer in einer bestimmten Situation oder auf Verallgemeinerung der Pionierleistungen einzelner Gründungslehrer. Wenn man die Lehrerkurse Steiners und die Konferenz-Mitschriften studiert, wird man feststellen, dass der Duktus seiner Äußerungen durchweg ratend-anregend ist. Sie haben in der Praxis zu lebendigem, künstlerischem, Geistesgegenwart schaffendem Unterricht geführt. Die Wirkung der Waldorfschulen wird über die Welt hin von dieser Qualität abhängen, nicht von angegebenen Inhalten, Formen oder Methoden.

Viel schwieriger ist offensichtlich, eine ähnliche Qualität auf dem Feld des sozialen Lebens zu verwirklichen. Wo Steiner feste Anweisungen für den sozialen Umgang der Menschen miteinander, das heißt für den Bereich der Absprachen, der Regeln, des Rechts gegeben hat, waren seine Forderungen oft radikal. Die historischen Darstellungen zur »Gründerzeit« der anthroposophischen Bewegung mit ihren Streitigkeiten und Spaltungen folgen stets dem Tenor, das von Rudolf Steiner »eigentlich Gemeinte« zu erklären und zu verteidigen und die Ursachen der Konflikte auf das Unverständnis seiner Schüler zurückzuführen. Damit wird die Problematik verdrängt und letztlich unlösbar. Die Frage zu stellen, wo Forderungen Steiners nicht mehr sach- oder zeitgemäß sind, heißt nicht, Steiner von seinem Werk zu trennen. So ist der von Kiersch als Mythos bezeichnete Kontrollauftrag an die Stuttgarter Schule, unterzeichnet vom Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, Guenther Wachsmuth, eine testamentarische Verfügung Rudolf Steiners zwei Wochen vor seinem Tod, die in ihrer Ausführung zu Konflikten führen musste.

Der Wortlaut heißt: »Im Auftrage Dr. Steiners möchten wir Ihnen mitteilen, dass in Zukunft die Waldorfschul-Lehrerschaft autorisiert ist, die Leitung über sämtliche in Deutschland befindliche Schulen auszuüben, welche anthroposophische Pädagogik anwenden wollen. Diese der Waldorflehrerschaft übertragene Verantwortung bringt es mit sich, dass diese Führung sich sowohl auf die Anwendung der anthroposophischen Pädagogik als auf eine Prüfung der wirtschaftlichen Grundlagen erstreckt. Diejenigen Schulen, welche diesen Voraussetzungen nicht entsprechen, können nicht als Vertreter anthroposophischer Pädagogik angesehen werden.« In der undogmatischen Offenheit im Umgang der Kollegen untereinander, der Lehrer mit den Eltern, mit der Öffentlichkeit sehe ich ebenso eine Voraussetzung dafür, dass Waldorfpädagogik wahrhaft zukunftsfähig wird, wie im künstlerisch, das heißt individuell gestalteten Unterricht.

Den Artikel von Johannes Kiersch finden Sie in der Printausgabe der Erziehungskunst 04 / 2010.